Dr. Dr. Reinhard Kallenbach | Landeskundliche Forschung
   Dr. Dr. Reinhard Kallenbach | Landeskundliche Forschung

10. Hygiene in Koblenz


10.1 Die Cholerajahre1


Im 19. Jahrhundert wurde vor allem eine Krankheit zur tödlichen Bedrohung: die Cholera. Diese für Europa neuartige Epidemie brach 1817 in Bengalen aus. Über Afghanistan gelangte sie an die Wolgamündung und erreichte 1830 schließlich Moskau. Über Polen drang sie weiter in Richtung Westen vor.2 Dort hatte sie besonders in den Großstädten verheerende Folgen. Dass die Seuche sich so stark verbreitete, lag an den schlechten Wohnbedingungen in den Zentren und der Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ minderwertigen Nahrungsmitteln.3


Vor allem die durch das Trinkwasser verursachten Epidemien verlaufen rasend schnell. Das war 1892 in Hamburg der Fall.4 Die Krankheit bricht dann aus, wenn Choleravibrionen in den Verdauungstrakt gelangen.5 Cholera beginnt mit Erbrechen und Durchfall. Dann folgt der Zusammenbruch: Das Blut verdickt sich und erhält den Kreislauf nicht mehr aufrecht, Muskelkrämpfe peinigen die Kranken. Während der großen Epidemien kam es in etwa der Hälfte der Fälle durch Herz- und Nierenversagen zum Tod.6


Wie in anderen Städten gaben auch in Koblenz die Lebensbedingungen hinreichende Gründe zur Sorge. Vor allem in der Kastorstraße, wo 1881 mehrere Personen an Typhus gestorben waren, wohnten die Menschen in kleinen, dunklen und feuchten Unterkünften.7 Hinzu kam das Fehlen einer intakten Kanalisation. Deshalb wurde dieses Viertel auch immer wieder als Seuchenherd angesehen: Dort lebten 1882 in den 148 Häusern 3.120 Koblenzer, also rund 21 Bewohner pro Haus.8 Bei dieser Berechnung muss man jedoch berücksichtigen, dass zu jener Zeit viele Wohnungen leerstanden. Eine volle Auslastung der Kapazitäten hätte die Gesamtzahl der Personen auf 4.000 (etwa 27 Bewohner pro Haus) erhöht!9 Die Situation veranlasste die Stadt im Frühjahr 1892 zur Durchführung einer Bestandsaufnahme, deren Ergebnisse schriftlich festgehalten wurden. In dem abschließenden Bericht des Kreisbauinspektor Victor Tetens heißt es:

 

„[...] für die 3120 Seelen” [ergibt sich] „ein Raum von 27,3 cbm pro Kopf; ein anscheinend nicht ungünstiges Resultat, wenn man berücksichtigt, daß in Gefängnissen eine Einzelzelle zur kontinuierlichen Benutzung 25 cbm enthalten muß. Bei normaler Beleuchtung der Räume, gehöriger Ventilation derselben, genügender Zimmerhöhe, überhaupt bei geordneten Verhältnissen in Bezug auf Reinlichkeit, gesunde Luft, Ventilation [...] würde gegen das Ergebnis Nichts zu erinnern sein, indeß liegen die Verhältnisse in Wirklichkeit ungünstiger. Was zunächst die Zuführung des Lichtes anbetrifft, so sind erstens die Fensteröffnungen klein, etwa durchschnittlich 1,0 m breit, 1,3 m hoch, sodann ist in Folge der verhältnismäßig großen Tiefe der Gebäude eine Beleuchtung der in der Mitte der Gebäude befindlichen Räume äußerst dürftig, zum Theil gar nicht vorhanden, außerdem ist die Geschoßhöhe sehr gering und [sind] einzelne Räume als Schlafraum zu sehr in Anspruch genommen.


In dem Hause No. l dient die Stube [...] als Schlafraum für 4 Personen, bei einer Zimmerhöhe von nur 1,7 m. Der Abtritt, welcher seinen Abzug nach der Mosel hin hat, befindet sich im dritten Geschoß und dient allen Hausbewohnern zur gemeinschaftlichen Benutzung. Die Zugänge, Treppen etc. sind eng, dunkel und baufällig. Das Haus No. 3, anscheinend [eine] Herberge, enthält einen Raum No. 6 [...] der zur Zeit der Aufnahme 8 Personen als Schlafraum diente, die Schlafstuben No. 12 und 16, welche ohne jegliche Beleuchtung angelegt sind, haben eine Höhe von 2,9 m, woselbst 3 Betten Platz finden müssen. Die Abortanlage ist mangelhaft, überall [war] förmlich verpestete Luft und machte sich das Aufsteigen der Miasmen in den Gängen sehr bemerkbar.


Im Hause No. 13 sind die Räume 5, 6, 10 und 16 ohne jede Beleuchtung und werden als Schlafraum, zur Tageszeit aber als Koch- und Waschraum benutzt. Im engen hohen Lichthofe, woselbst sich auch die Abtrittsanlage befindet, ist eine Luftcirculation unmöglich, ein Zutritt reiner Luft in die angrenzenden Räume kann nicht stattfinden, sondern die langsam, mit Fäulnisstoffen getränkten, aufsteigenden Dünste ziehen sich in die Räume hinein und bringen eine stete Verunreinigung der Luft im ganzen Haus hervor [...]“10


An den schlechten räumlichen Verhältnissen waren insbesondere die völlig veralteten, teilweise noch in mittelalterlicher Tradition stehenden Hausgrundrisse schuld. Außerdem bereiteten auch die unzureichenden Ver- und Entsorgungseinrichtungen in der wohl am dichtesten besiedelten Straße der Innenstadt die meisten Sorgen. Der Bericht des Kreisbaumeisters beschreibt die Situation im Bereich der Kastor- und Moselstraße wie folgt:

 

„Am Kornpfortthor ist ein großer Hauptkanal, der von verschiedenen Zweigkanälen der Kornpfort- und Castorstraße das Tage- und Spülwasser aufnimmt und dicht an den Häusern der Moselstraße [vorbeiführt] [...] Unter den 44 Gebäuden in der Moselstraße haben 24 derselben keine Kothgruben und wird die Auswurfsmasse [...] in die Mosel geleitet. Diese Kanäle münden durch die Festungsmauer in sehr verschiedenen Höhenlagen in die Mosel, so daß die Sohle des am tiefsten austretenden Kanals noch über + 3 m am Coblenzer Pegel liegt; die Moselstraße selbst liegt im Durchschnitt auf + 7,5 m Coblenzer Pegel, also noch nicht hochwasserfrei. Diese ungünstigen Höhenverhältnisse bringen den Übelstand mit sich, daß bei niedrigen Wasserständen, welche noch dazu in der heißen Jahreszeit stattfinden, die Fäcalstoffe einestheils größere Strecken auf trockenem Ufer fortfließen oder liegen bleiben, andererseits aber die offenen Fäulnisstoffe die Mosel straße verpesten und die Luft in sämmtliche Häuser, in Folge der Luftströmung, welche durch die Kanäle in Verbindung mit den Abortöffnungen notwendigerweise entstehen muß, eindringen lassen; außerdem stagnirt der Inhalt oft lange Zeit, und Boden und Luft werden durch ihn verunreinigt.

 

In Betreff des Kanals zwischen den Häusern No. und No. 31 ist noch besonders hervorzuheben, daß derselbe als Fortsetzung einer offenen Rinne [dient] und [es] erwies sich bei der örtlichen Besichtigung Folgendes: Die offen,e in der 23 m langen, 3,0 m breiten Sackgasse (Lillgäßchen) befindliche Rinne [nimmt] außer der Straßenmasse die Abflüsse von 24 Häusern der Castorstraße und 9 Haus des sogenannten Maisegäßchens auf. Diese Rinne ist in ihren Wandungen undicht und hat ihren Auslauf in den obengenannten Kanal, über dem sich die Parterre-Räume nach der Mosel zu gelegenen Häuser befinden. Es fand sich in der Rinne nicht allein stagnirender Schmutz, Excremente, Blutwasser, thierische Abfälle [...] sondern es war auch das Gäßchen in seiner ganzen Ausdehnung mit diesem Schmutzwasser überdeckt, so daß die übel riechenden Ausdünstungen sich sogleich beim Eintritt in die Gasse bemerk machten: in gleicher Weise fand sich im genannten Kanal unter dem Bogen ein Haufen Unrath aller Art und die Ausdünstungen verbreiteten einen pestilenzialischen Gen ein kleiner Beweis für die mangelhafte und den allgemeinen anerkannten Forderung in Bezug auf Bau und Spülung nicht im Entferntesten entsprechenden Kanalanlage, den angrenzenden Häusern werden Schlächtereien betrieben, die in der Gasse sich vorfindenden Fäulnisstoffe, Schmutz und Blutwasser rührten anscheinend aus den Spülstein der Schlächtereien her und erwies sich der unter dem Bogen befindliche Unrath theilweise als Abfall aus den Schlächtereien [...]“11


Nicht nur die sanitären Verhältnisse in der Kastorgasse standen im Brennpunkt Kritik, denn den Zeitgenossen war durchaus klar, dass verunreinigtes Wasser einen Seuchenherd ersten Ranges darstellte. Auf den ersten Blick sah es mit der Trinkwasserversorgung in Koblenz gar nicht so schlecht aus. In der Stadt bestanden 1865 34 öffentliche und 514 Privatbrunnen.


Zusätzlich gab es die Metternicher Wasserleitung, von der n einmal drei Brunnen gespeist wurden. Doch in Wirklichkeit war es mit der Qualität Wassers nicht zum besten bestellt. Darauf wies im Mai 1870 Landrat Jakob Franz Hubert Freiherr Raitz von Frentz bei der Generalversammlung des Zweigvereins für öffentliche Gesundheitspflege hin.12 In Koblenz existierten gemauerte Gruben zur Aufnahme Exkrementen und anderem Unrat, deren Böden und Wände undurchlässig waren. Trotzdem konnte der meiste Unrat ungehindert in das Grundwasser fließen. Aber auch die „dichten” Schächte waren nicht sicher. Landrat von Frentz beschrieb das Problem folgt:

 

„[...] Da die Schlinggruben selten gereinigt werden, so füllen sie sich stark mit Fäulnißgasen an, welche bei unvollständigem Abschlüsse des Abtrittsitzes sich in dem Closett und in die Wohnstuben verbreiten. Man muß erstaunen, wie unvorsichtig und nachlässig man in dieser Beziehung in großen Städten ist und eine große Quelle der schädlichen Gase in den Wohnungen duldet [...] Hier in Coblenz ist nur die Anlage von Schlingruben im Wege der Polizei- Verordnung eingeführt; freilich nicht für die Excremente, aber um das Ausgießen des Küchen-, Blut-, Wasch- und Farb-Wassers in die Straßenrinnen zu verhüten. Man übersah bei dieser Anordnung, daß hierdurch eine viel größere Gefahr für die Brunnen herbeigeführt wurde; denn selbst eine Schlinggrube für solche Ausgangsstoffe unterscheidet sich im Wesentlichen nicht viel von einer Kothschlinggrube, da ein solches Wasser stets animalische und andere Abfälle mit sich führt, welche denselben Fäulnißprozeß wie die Excremente durchlaufen [...]“13


Erst 1890 wurde im heutigen Stadtteil Rauental ein öffentlicher Schlachthof seiner Bestimmung übergeben. Bis dahin stellten die 72 bestehenden Schlächtereien die Behörden vor schier unlösbare Probleme, denn die Betriebe lagen überwiegend in den Hinterhäusern. Die meisten Metzger ließen Abwässer und Blut in die Straßenrinnen laufen, Abfälle und Gedärme wanderten einfach in die Abtritte. Hinzu kam, dass viele Gruben alles andere als dicht waren. Es gab eine Reihe „schwarzer Schafe”, die die Schächte so tief durchbrechen ließen, dass sie bis auf die Kiesschichten des Rheines und der Mosel hinabreichten. In einigen Fällen wurden sogar die nur für das Oberflächenwasser gedachten Kanäle aus kurfürstlicher Zeit „angezapft” und somit die Entsorgung von Problemabfällen auf elegante Weise gelöst. Verschmutztes Wasser konnte dann durch die lockeren Kiesschichten in die Brunnen eindringen. Dass im Koblenz des 19. Jahrhunderts die Seuchen nicht so wüteten wie in vielen anderen Städten, ist sicherlich seiner Lage an Rhein und Mosel zu verdanken. Die Strömung der beiden Flüsse sorgte meistens für den „Abtransport” des Unrates. Dennoch ließ die Trinkwasserqualität der Brunnen zu wünschen übrig.14


Die ständige Gefährdung der Gesundheit bewirkte, dass der Ruf nach einer neuen Wasserleitung und einer Kanalisation immer lauter wurde.15 Schließlich war es soweit: 1882 führte der Ingenieur H. Grunder ein „Vorproject zur Wasserversorgung" durch. Das Gutachten enthielt Untersuchungen zur geologischen Situation, eine Beurteilung der Trinkwasserqualität und Kostenvoranschläge.16 Zwei Jahre später legte der national und international bekannte „Civil-Ingenieur” Ernst Grahn17 seinen „Erläuterungsbericht zum Projecte für das Wasserwerk” vor. Zentrale Bedeutung bekam dabei das Rheinufer im Bereich des heutigen Sportgeländes auf dem Oberwerth. Hier wollte man eine Pumpstation bauen. Dort sollte das Wasser „aus dem Kiesbette des Rheins“ über Brunnen entnommen werden. Der weitere Weg des Wassers verlief dann über eine Hochdruckleitung zu einem am Fuße der Karthause gelegenen Hochreservoir, von wo es in ein ringförmiges, die ganze Stadt erschließendes Versorgungssystem geleitet wurde.18 In den Jahren 1885 und 1886 vollendete man das Werk.19


Bald nach der Fertigstellung des neuen Wasserversorgungssystems machte man sich an die Planung einer neuen Kanalisation. Über die bereits existierenden Entwässerungsmöglichkeiten legte 1889 der Ingenieur Andre einen Bericht vor. Grünes Licht erhielt die Stadt am 13. Oktober 1891 aus Berlin. Das Ministerium des Inneren schrieb nach Koblenz, dass man „[...] mit Rücksicht auf die außerordentlich starke Verdünnung und schnelle Abführung der städtischen Schmutzwässer durch das Rheinwasser, welches [...] in den unterhalb Coblenz am Rhein gelegenen Ortschaften Seitens der Anwohner zu Trink- und Wirthschaftszwecken nicht gebraucht wird, sowie in Anbetracht der wenig günstigen Finanzlage der Stadt von der Forderung einer chemischen Reinigung des Kanalinhaltes vor der Einleitung in den Strom [...]” verzichten wolle. Allerdings machte das Ministerium zur Auflage, den Ausgang des Kanalsystems im Mündungsbereich der Mosel anzubringen. Schließlich war die Stadt verpflichtet, „[...] ausreichende Reinigungsanlagen auf Verlangen der Aufsichtsbehörde herzustellen, sobald sich irgend welche Mißstände durch die Einleitung des ungereinigten Kanalinhalts in den Strom ergeben sollten [...]” Ferner wollten die Behörden die Fäkalien von den Kanälen fernhalten, um die Verunreinigung des Rheins zu verhindern. Man ordnete die Anlage von Abortgruben und die Einführung eines einheitlichen Abfuhrwesens an. Wasserklosetts durften nur dort eingerichtet werden, wo sich wegen Raummangels Gruben nicht herstellen ließen.20


Die Bedingungen waren ein Kompromiss. Ursprünglich hatte die Obrigkeit vorgeschrieben, zur Entsorgung der Fäkalien Berieselungsfelder anzulegen oder den Inhalt der Abtritte vor der Einleitung in die Flüsse chemisch zu behandeln. Doch die Gemeinden im Regierungsbezirk Koblenz scheuten aus finanziellen Gründen diesen Schritt.21 Im Vergleich zu anderen deutschen Städten ist in Koblenz die Verbesserung der hygienischen Zustände relativ spät erfolgt. So hatten zum Beispiel Dortmund (1872) und Münster (1880) ihre Wasserwerke früher in Betrieb genommen.22 In München begann man 1872 mit dem Ausbau des Kanal- und Wasserleitungsnetzes.23 Erst 1893 begann der Ingenieur Andre mit der Realisierung des Koblenzer Projektes.24 Fünf Jahre später war das Kanalsystem für die Innenstadt so gut wie fertiggestellt. In den folgenden Jahren begann die Einbindung der Vorstadt und der neu eingemeindeten Orte.25


10.2 Mehr Licht, mehr Luft!


Trotz der Zerstrittenheit der Mediziner hatten Seuchen wie Typhus und Cholera den Zeitgenossen für die schlechten Lebensbedingungen in den Städten die Augen geöffnet. Der Ruf nach einer Reform des Wohnungsbaus wurde immer lauter. Man erkannte Heizung, Wasser, Licht und Luft als unverzichtbare Bestandteile für das gesunde Wohnen. Die Kritiker bemängelten vor allem die Anlage zu vieler und zu kleiner Wohnungen in den Mietshäusern. Überhöhte Grundstückspreise und die weit verbreitete Spekulation mit Immobilien in den Städten machte jedoch die Umsetzung der Reformwünsche – wenn überhaupt – nur in Ansätzen möglich. Deswegen blieb die Diskussion über die Verbesserung der Wohnverhältnisse im gesamten 19. und auch Anfang unseres Jahrhunderts aktuell. Auch heute ist die Debatte noch längst nicht zum Abschluss gekommen.26


Ein Hauptgrund für die Verschlechterung der Zustände war die vor allem bis in die 1870er Jahre herrschende volkswirtschaftliche Anschauung. Das Wohnungswesen war dem freien Spiel der Kräfte ausgeliefert, denn die öffentliche Hand unterließ „störende” Eingriffe. Der Glaube an eine automatische Zunahme der Bauaktivitäten im Falle des Wohnungsmangels war zu jener Zeit weit verbreitet. Bei einem Überschuss an Unterkünften hoffte man, dass sich die Investoren auch ohne Baupolizei nach den Bedürfnissen der Mieter richten würden. Vielerorts spielte das Wohl der Bewohner bei den Planungen eine unbedeutende Rolle. Der Verkauf des Geländes und die Veräußerung von Mietshäusern hatte sich längst zum Gewerbe entwickelt. Immobilien sollten größtmögliche Gewinne bringen. Sie wurden deshalb zunehmend Gegenstand der Spekulation. An gesunden Lebensverhältnissen hatten die häufig wechselnden Eigentümer kein Interesse.27


Viele Ingenieure und Mediziner arbeiteten bei der Lösung der Wohnungsfrage nur ungern zusammen. Das Misstrauen beider Seiten wird in einer Streitschrift des Magdeburger Ingenieurs W. Born deutlich, der sich 1884 mit seiner „Warnung für das Bau-und Ingenieurwesen” an die Öffentlichkeit wandte. Darin heißt es:

 

„[...] Wenn die Ausdehnung des Einflusses der Aerzte in derselben Weise fortschreitet, wie es in den letzten Jahren der Fall war, so wird das gesamte Bau- und Ingenieurwesen sehr bald unter einer neuen, noch bedrückenderen Herrschaft stehen als die Juristenschaft ist, unter der es sich ohnehin schon befindet. Ich habe [...] für die Ausführung der hygienischen Bestrebungen z. B. der Durchführung rationeller Lufterneuerung Anklang und Unterstützung in den besten Baukreisen gefunden, von den Aerzten nur von Staatsbeamten und von Angestellten in Instituten, Krankenhäusern, Irrenanstalten usw., fast niemals bei Privat-Aerzten, die selbst im eigenen Hause keine Ventilation haben, noch jemals ihren Kranken eine solche ‘verschrieben’. Trotzdem maßen sich die Herren die uneingeschränkte Verfügung auch über bauliche Einrichtungen an und Niemanden fällt es ein, ‘Baumeister und Ingenieure’ in die Sanitäts-Commissionen aufzunehmen, die von Juristen und Aerzten allein besetzt werden. Mögen die Techniker mehr Aufmerksamkeit entwickeln, um das Ansehen ihres Berufes aufrecht zu erhalten! [...]“28


Born kritisierte auch die Versäumnisse beim Kampf gegen die Cholera. So hatte der Reichstag 100.000 Mark für die Erforschung des Krankheitserregers ausgegeben. Ein Mittel zur erfolgreichen Bekämpfung war aber nicht gefunden worden. Die Maßnahme stellte für den Ingenieur eine reine Geldverschwendung dar, weil man es in Magdeburg bereits 1873 geschafft hatte, die Epidemie zu bekämpfen. Von 84 behandelten Menschen starben damals nur vier! Der Verfasser der Streitschrift sah Wasser und Luft als die besten Heilmittel an. Er schlug daher vor, für eine hinreichende Ventilation in den Wohnungen zu sorgen. In diesem Zusammenhang wies Born besonders auf die Seuchenherde in den Hinterhäusern hin, wo die ärmeren Bevölkerungsschichten unter schlechten hygienischen Verhältnissen lebten.29


In der Koblenzer Innenstadt war die Situation ebenfalls ungünstig. Auch wenn die Preußen den Befestigungsring großzügiger als den Vorläufer aus der Barockzeit angelegt hatten, waren die Möglichkeiten der Schaffung neuen Wohnraumes in der Stadt beschränkt. Das neue, bis zum heutigen Friedrich-Ebert-Ring reichende Gelände konnte mit der Zeit den Raumbedarf nicht mehr decken. Zwar hatte die Stadt nicht wie die industriellen Zentren mit einer Bevölkerungsexplosion zu kämpfen, doch stiegen die Einwohnerzahlen ständig.30


Die Tabelle zeigt nur eine kleine Datenauswahl. Trotzdem ist zu erkennen, dass die gedruckten Statistiken der Handelskammer zu Koblenz und der Stadtverwaltung erst ab 1885 konkrete Angaben über die Stärke des anwesenden Militärs und die Bevölkerungsbewegung zulassen.31 Ein Großteil der Daten bezieht sich daher auf die Zeit nach der Öffnung der preußischen Befestigung ab 1890. Mit ihrer Hilfe können wir genau verfolgen, wie viele Menschen nach Koblenz gekommen oder innerhalb der Stadt umgezogen sind. Außerdem erhält man jetzt leicht Informationen über die Bevölkerungsfluktuation.


Koblenz hatte als Hauptstadt der Rheinprovinz schon vor der Beseitigung der Festungsmauern eine gewisse Anziehungskraft. Vor allem Gewerbetreibende, Arbeiter, Handwerksgesellen oder Dienstmägde suchten in der Stadt Beschäftigung.32 Wenn sie ihr Ziel nach einer wirtschaftlichen Verbesserung nicht erreichen konnten, zogen sie wieder fort. Das erklärt die hohen jährlichen Zu- und Abwanderungszahlen: Die Stadt war in erster Linie ein Zentrum für die Verwaltung und das Militär. Der Arbeitsmarkt war wegen der nur spärlich vorhandenen Industrie begrenzt. Bereits 1862 klagte die Koblenzer Handelskammer über die fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten:

 

„[...] Unser Coblenz, obwohl äußerst günstig an dem Vereinigungspunkte zweier Flüsse und mehrerer Eisenbahnlinien gelegen, kann trotzdem der Vortheile, welche eine solche Lage verspricht, nicht in vollem Maße theilhaftig werden. Die Stadt ist nämlich bei der Anlage der Festungswerke [...] so eng umgürtet worden, daß bei der fortwährenden großen Zunahme der Bevölkerung nur äußerst wenige Plätze zum Neubau von Wohnhäusern mehr vorhanden sind und von der Errichtung größerer gewerblicher Etablissements und somit auch von der Hebung der dieselben bedingenden Industriezweige vollends gar keine Rede sein kann [...]“33

 

Der Polizeidirektor, Landrat Jakob Franz Hubert Freiherr Raitz von Frentz, war gleicher Ansicht. 1863 schrieb er an die Königliche Regierung: ,,[...] in der That ist die baldige Erweiterung bei der fortwährenden großen Zunahme der Bevölkerung und der äußerst wenigen Plätze zu Neubauten und Wohnhäusern höchst nothwendig, da der enge innere Raum der Stadt sie nicht zuläßt und namentlich jede Errichtung großer Etablissements geradezu hemmt und somit den Verdienst der Bevölkerung schmälert [...]“34


In einem weiteren Schreiben an die Regierung nannte der Polizeidirektor exakte Daten. Demnach lebten 1864 in Koblenz – das Militär nicht eingerechnet – 23.048 Menschen (4.299 Familien) in 1.381 Privathäusern mit 21.176 bewohnbaren Räumen. Das ergab pro Haus einen Schnitt von 16,7 Einwohnern (3,11 Familien), für jeden Raum einen Wert von 1,14 Personen. Auf den ersten Blick erscheint diese Statistik nicht ungünstig. Rechnet man jedoch noch die Militärbevölkerung (241 Familien; insgesamt 4.889 Köpfe) hinzu, ergibt sich eine weitere Verknappung des Wohnraumes. Besonders betroffen waren zu dieser Zeit die Bereiche Kastorstraße, Görgenstraße und Weißer Gasse. Von Frentz wies in seinem Brief besonders auf die Verdopplung der Mieten innerhalb weniger Jahre hin, die vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten besonders hart getroffen hatte.35

 

Die Situation verschlechterte sich weiter. So klagte Oberbürgermeister Karl-Heinrich Lottner über die fruchtlosen Verhandlungen mit den übergeordneten Behörden, die den Expansionswünschen der Stadt zwar Gehör schenkten, die Beseitigung der Festungsanlagen wegen der hohen Kosten aber scheuten. Lottner beschrieb vor allem die Zahlungsnot der Kommune, die den Anforderungen der Wohlfahrtspflege nicht mehr entsprechen konnte: Die Bevölkerungsdichte war inzwischen weiter gestiegen. In jedem Haus lebten nach Angabe des Oberbürgermeisters jetzt im Durchschnitt 19 Menschen. Wie spätere Erhebungen beweisen, war diese Schätzung zu hoch. Dennoch übertraf Koblenz die meisten dicht besiedelten Städte in Preußen. So lebten im ebenfalls problembelasteten Elberfeld — statistisch gesehen – „nur” 14 Bewohner in jedem Haus. Dagegen waren in Koblenz allein in der Kastorstraße 3.031 Menschen in 115 unzureichenden Wohnbauten zusammengepfercht.36


Zu einem differenzierteren Ergebnis als Lottner kommt die Handelskammer zu Koblenz. Aus ihrem Brief an den Fürsten Otto von Bismarck, Reichskanzler und Chef des preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe, geht hervor, dass der Militärfiskus einen großen Teil der Flächen innerhalb der Stadt für seine Zwecke reserviert hatte, was schrittweise eine Verknappung des Wohnraumes bewirkte. Die unmittelbaren Folgen waren zu hohe Mieten und die Ausnutzung der Hofräume zur Ausführung von Hintergebäuden. Nur 11,27 Prozent der Bauvorhaben betrafen die Errichtung von neuen Häusern, was zu einer Rezession im Baugewerbe führte. Selbst für die Neueinrichtung kleinerer gewerblicher Anlagen blieb kaum Platz. Die negative Entwicklung trieb die Zahl der Menschen in den Häusern in die Höhe. Der Schnitt lag bei 17,2 Personen pro Gebäude! Erst der Vergleich mit anderen Städten macht deutlich, wie es um die Lebensbedingungen der Koblenzer vor der Öffnung der Festungsmauern stand. In Bonn wohnten durchschnittlich 10,6, in Neuwied 12,9, in Trier 12,3 und in Kreuznach 9,8 Menschen in jedem Haus, wobei allerdings in letztgenannter Stadt die Geschosszahl sicherlich geringer als in Koblenz gewesen sein dürfte.37


Die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen für die meisten Bewohner der Stadt werden vor allem an den Zuschüssen für die Armenverwaltung deutlich. Pro Kopf waren es jähr lieh 4,75 Mark. In Bonn fielen die Zuschüsse mit 3,65, in Trier mit 1,14, in Neuwied mit 3,83 und in Kreuznach mit 1,81 Mark pro Kopf zum Teil erheblich geringer aus. Angesichts der damaligen Verhältnisse wird es leicht verständlich, warum der Rückgang der Gewerbesteuern die Stadt besonders hart traf. Innerhalb von 20 Jahren fielen die Einnahmen von 41.000 auf 39.000 Mark, obwohl die Bevölkerungszahl erheblich stieg. Im krassen Gegensatz dazu stand mit 60,82 Mark die durchschnittliche Höhe der an den Staat abzuführenden Gebäudesteuer. Diese Steuer war in Bonn (39,04 Mark), Neuwied (25,32 Mark), Trier (29,19 Mark) und Kreuznach (19,61 Mark) weit niedriger.38


Die ungünstigen räumlichen und ökonomischen Bedingungen veranlassten die Stadtväter bereits frühzeitig, über die Erweiterung von Koblenz nachzudenken. Sie mussten dabei aber den weiteren Bestand der Befestigungsanlagen einplanen. Die damals beste Möglichkeit war die Eingemeindung des auf der nördlichen Seite der Mosel gelegenen Lützelkoblenz, das ebenfalls innerhalb der preußischen Großfestung lag. Bemühungen bei der Staatsregierung in Berlin blieben jedoch ohne Erfolg.39


Auch private Investoren zerbrachen sich über neue Expansionsvarianten die Köpfe. Die wohl erstaunlichste Idee hatte der „Civil-Ingenieur und Brauerei-Techniker” M. Kru-dewig. Am 8. August 1874 schrieb er im Auftrage eines Konsortiums an Oberbürgermeister Lottner und schlug die „Erweiterung der Stadt auf Kosten des Moselbetts durch Anlage eines neuen Stadttheils am Deutschen Eck” innerhalb von fünf Jahren vor. Zugunsten des neuen, hochwasserfreien Wohn- und Geschäftsviertels sollten die Festungsmauern weichen und im Moselbett neu errichtet werden. Darüber hinaus wollte man auch eine Fruchthalle und den schon längst überfälligen Schlachthof errichten. Schließlich war die Anbindung der neuen Straßen an die Kernstadt vorgesehen. Das Konsortium verpflichtete sich – mit Ausnahme des Schlachthauses, der Fleischhalle und der Lagerräume – zur Übernahme sämtlicher Kosten. Allerdings erhoben die Investoren Eigentumsansprüche auf sämtliche Baugrundstücke.40


Auch die Verwirklichung des Krudewig’schen Planes wurde von der Obrigkeit nie in Angriff genommen. Das Baugeschehen in der Kernstadt war also weiterhin von Provisorien geprägt. Die Hauseigentümer blieben bei ihrer Vorliebe für die Aufstockung von Haupt- und Nebengebäuden. Dabei wurden oft minderwertige Baumaterialien benutzt. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendete man besonders gern sogenannte „Schwemmsteine”. Diese Bimssteine waren oft zu kurz gelagert worden, was verhängnisvolle Folgen haben konnte. So berichtete die lokale Presse hin- und wieder über den Einsturz von Bauten.41 Dabei scheint es sich nicht um Einzelfälle gehandelt zu haben, denn sogar das zuständige Ministerium in Berlin beschäftigte sich mit dem Problem und erließ eine umfangreiche Verordnung, um die ordnungsgemäße Herstellung der Steine sicherzustellen.42


Nicht nur Aufstockungen oder die Bebauung der Hofflächen verschlechterten die Wohnbedingungen in der Innenstadt; auch Neubauten trugen zur Verknappung des Lebensraumes für die weniger wohlhabenden Bevölkerungsgruppen bei. So heißt es im städtischen Verwaltungsbericht für das Rechnungsjahr 1888/89:

 

„Durch die Aufführung großer Gebäude mit herrschaftlichen Wohnungen an Stellen, auf welchen früher kleine Häuser mit Wohnungen für arme Leute gestanden haben, wurden die Wohnungen für die Ärmeren an Zahl geringer, an Raum beschränkter und an Miethe theuerer [...]“43


Die Verbesserung der Wohnverhältnisse wurde ebenso in der örtlichen Presse immer wieder gefordert. So stellt der „Coblenzer General-Anzeiger” unter dem Titel „Gesundes Wohnen” folgendes fest: „[...] Der ungesundeste Aufenthalt für Menschen ist jedoch in Hof- und Kellerwohnungen [...] Da dringt die Grundluft mit ihren Miasmen ein und schädigt die Gesundheit, zumal eine natürliche Ventilation kaum möglich ist. Da ist jede Dachwohnung, trotz der Sommerhitze und des hohen Treppensteigens, vorzuziehen; sie prädistinirt den Menschen doch nicht zur Schwindsucht, zu Knochengelenk- und Augenleiden […]“44

 

An den schlechten Wohnbedingungen waren vielerorts vor allem die zu hohen Gebäude schuld. In fast resignierendem Ton schrieb dazu der „General-Anzeiger”: Dem Uebelstande, daß die Bauherren zu hohe Häuser aufrichten, kann nur dadurch abgeholfen werden, mehr auf die Gesundheit ihrer Miether als auf ihren Geldbeutel zu sehen, freilich eine schwer erfüllbare Forderung [...]“45


Neue Erkenntnisse über die Auswirkungen ungesunder Wohnverhältnisse führten zu einer Verschärfung der Bauauflagen. So schrieb die Koblenzer Bauordnung vom 14. Juni 1881 vor, daß in Straßen unter einer Breite von zehn Metern Häuser nicht mehr als vier Stockwerke haben durften. Die Erdgeschosse wurden dabei mitgezählt. Diese Regelung war vor allem für die Koblenzer Altstadt wichtig, denn jetzt setzten die Verantwortlichen dem „Aufstockungs-Unwesen” Grenzen: Auf die älteren Häuser, die in der Regel aus Erd-und zwei Obergeschossen bestanden, konnte nur eine Etage aufgesetzt werden.


Mit der neuen Verordnung wurde zumindest bei Neubauten das Übel niedriger Zimmer bekämpft. Wohnräume mussten eine lichte Höhe von mindestens drei Metern erhalten. Bei Um- und Ausbauten an bestehenden Häusern schrieb die Baupolizei eine Raumhöhe von mindestens 2,30 Metern vor. Diese Regelung galt nicht, wenn die bereits vorhandenen Zimmer des alten Baus diesen Grenzwert überschritten. In diesem Fall sollten die neuen Räume ebenfalls höher als 2,30 Meter sein. Zudem durften Dachwohnungen nur über dem obersten Stockwerk und nicht übereinander angelegt werden. Wohnungen, welche teilweise unter der Erdoberfläche lagen, waren nur erlaubt, wenn der Fußboden mindestens 30 Zentimeter über dem höchsten Grundwasserstand und nirgends tiefer als 50 Zentimeter unter dem Erdboden lag. Schließlich schrieb man für jede Wohnung die Anlage umwandeter und fest verschließbarer Abtritte vor. Ausnahmen konnten jedoch zugelassen werden.46


Weitere Beschränkungen brachte das Baupolizeirecht vom 1. Juni 1899. Die alten Vorschriften wurden nun durch Bestimmungen ergänzt, mit denen die Obrigkeit die vollständige Bebauung von Parzellen verhindern wollte. Fortan durften unbebaute Grundstücke nur bis zu 2/3, bebaut gewesene bis zu 3/4 und Eckgrundstücke bis zu 4/5 ihrer Fläche mit neuen Häusern ausgefüllt werden. Außerdem forderte man für jeden Gebäudekomplex einen Hofraum, der mindestens fünf Meter breit sein musste.47 Der Flächeninhalt durfte 40 Quadratmeter48 nicht unterschreiten.49


Sofern die Frontwände der Hintergebäude, Seitengebäude oder -flügel sowie die Rückwände der an der Straße gelegenen Haupthäuser notwendige Fenster für Räume zum dauernden Aufenthalt von Menschen enthielten, machte die Baupolizei zur Auflage, diese Fenster an einem Hof anzulegen. Ausnahmen waren allerdings zulässig.50


Endlich erließ die Obrigkeit auch Bestimmungen, die zur Begrenzung der Gebäudehöhen beitrugen. Dabei wurde die Höhe eines Gebäudes von der Oberkante des Bürgersteiges, bei Hofgebäuden von der Oberkante des Hofpflasters bis zur oberen Kante des Hauptgesimses gemessen. Bei Giebeldächern war die obere Grenze die halbe Höhe des Giebeldreiecks. In Gassen mit einer Breite von weniger als neun Metern durfte ein Haus nicht höher als zwölf Meter sein. Bei bis zu zwölf Meter breiten Straßen galt eine Grenze von 15 Metern. Für das großzügiger angelegte Wegenetz außerhalb der Kernstadt erlaubte man eine Höhe bis zu 18 Metern. Damit diese Bestimmungen nicht durch abenteuerliche Dachkonstruktionen ausgehöhlt wurden, beschränkte man die zulässige Dachneigung auf maximal 45 Grad, was praktisch einem Verbot von Mansarddächern gleichkam.51 Diese Höhenbeschränkungen waren vor allem für die Altstadt wichtig, denn hier unterschritten die Straßenbreiten in der Regel den Standardwert von zwölf Metern.


Trotz aller Verbesserungen wies auch die neue Bauordnung erhebliche Mängel auf. So war es bei Gebäuden, denen Rauch, Dampf oder Gestank entströmten – etwa bei Ställen, Brennereien oder Brauereien – zwar verboten, Fensteröffnungen an den öffentlichen Straßen anzulegen, doch niemand verhinderte die schädlichen Ausdünstungen im Hinterhofbereich.52 Probleme wurden somit einfach dorthin verlagert, wo man sie auf den ersten Blick nicht erkennen konnte. Darüber hinaus scheinen Baupolizei und Gemeinde die Einhaltung der Bestimmungen eher nachlässig kontrolliert zu haben. Deswegen forderte der „Geheime Kommerzienrat” Dr. Julius Wegeler im April 1905 eine Änderung des städtischen Baustatuts. Während einer Stadtratssitzung beschrieb er, wie die Investoren in Koblenz durch die Errichtung von zu hohen Häusern die äußerste. Ausnutzung der Bauplätze erreichen wollten, ohne dabei die dringend erforderliche Zuführ von Licht und Luft zu berücksichtigen. Diese gesundheitsschädliche und kurzsichtige Bauweise führte nach der Meinung Wegelers auch zu einer Wertminderung der Wohngebäude.53


Die Gründe für die Misere werden vor allem in dem Brief des Polizeidirektors, Landrat Franz Andreas von Barton (genannt von Stedmann), an den Regierungspräsidenten August Freiherr von Hövel deutlich. Die Hauptursache für die maximale Ausnutzung der Baublöcke war die zu große Grundstückstiefe. Das betraf nicht nur die historisch gewachsenen Parzellen in der Altstadt, sondern auch neue Straßen und Stadtteile, weil hier die hinteren Baufluchtlinien fehlten. Zwar war das Übel schon seit längerer Zeit bekannt, doch scheute man ergänzende Auflagen wegen der höheren Straßenbaukosten, die bei einer feineren Aufteilung der Baublöcke zwangsläufig angefallen wären.54


Die Zurückhaltung der Behörden war größer, wenn es um die Anzahl der Geschosse in den Wohnhäusern ging. Die um die Jahrhundertwende geltende Bauordnung schrieb vor: „Wohngebäude dürfen vom Bürgersteig bis zur Gesimsoberkante außer dem Erdgeschoß nicht mehr als drei zum dauernden Aufenthalte von Menschen bestimmte Geschosse erhalten. Außerdem dürfen im Dachgeschosse einzelne Zimmer zum Bewohnen eingerichtet werden, sofern diese nur als Zubehör zu den darunter belegenen und nicht als selbständige Wohnungen bestimmt sind.”55 Diese Beschränkungen galten gleichermaßen für alle Bereiche der Stadt. Das verärgerte die Hausbesitzer, die sich durch die Bauordnung empfindlich geschädigt sahen. Sie wollten lieber auch ihre Dachräume vermieten, um aus ihren Gebäuden einen möglichst hohen Profit herauszuholen.56

 

Vorwürfe der Mieter wurden von den Vermietern zurückgewiesen. Sie machten die Bauunternehmer für die Misere verantwortlich, die sich auf die Berechnung einer möglichst hohen Rentabilität beschränkten und die Details der Polizeivorschriften den Baulustigen verschwiegen. Außerdem stellten die Eigentümer klar, dass Mansardenwohnungen gegenüber den besonders in der Altstadt weitverbreiteten kleinen, dunklen und feuchten Wohnungen ein großer Fortschritt seien.57 Die Proteste der Hauseigentümer blieben jedoch erfolglos. Selbst die Bauordnung von 1932/1933 verbot in Gebieten mit geschlossener Bebauung – so auch in der Altstadt – die Einrichtung eigenständiger Mansardenwohnungen.58


Das Verbot der Mansardenwohnungen bedeutete jedoch nicht das Ende der Überbelegung in den Altstadthäusern, wo zahlreiche Menschen in Dachgeschossen lebten. Im Gegenteil: Man errichtete weiterhin Hintergebäude, obwohl sich mit der Zeit neue Wohnmöglichkeiten in den eingemeindeten Vororten und der südlichen Vorstadt boten; die Nähe wichtiger Geschäfte, Dienstleistungen und Arbeitsmöglichkeiten machte die Altstadt noch bis in die 30er-Jahre zu einem interessanten Wohn- und Gewerbegebiet. Die Hofflächen wurden weiter zugebaut, allerdings nicht mit Wohnmöglichkeiten, sondern mit Werkstätten. Es war üblich, die Innenhöfe mit Drahtglas zu überdachen, um neue Räumlichkeiten für gewerbliche und handwerkliche Betriebe zu schaffen. Hinzu kam, dass die Behörden vor dem Krieg dem Wegzug der Bevölkerung in die neuen Wohngebiete in der Vorstadt und der Goldgrube positiv gegenüberstanden. Von einer idyllischen Wohnlage konnte daher auf keinen Fall die Rede sein. Dies zeigen bereits wenige Beispiele. An der Moselbrücke befanden sich vor dem Krieg eine größere Autowerkstatt und ein Kohlelager.59 Alles andere als wohnlich war auch die Burgstraße; dort produzierte eine Fischfabrik. Direkt daneben befand sich eine Tankstelle mit den dazugehörigen Garagen.60

 

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Anmerkungen:


1 Dieses Kapitel ist nur ein grober Einblick in ein komplexes Thema, das der Autor in seiner zweiten Dissertation von 2007 dd
2 Evans, Tod in Hamburg, S. 294/295.
3 Hilger, Seuchen, S. 157/158.
4 Geist/Kürvers, Berliner Mietshaus, Bd. l, S. 154.
5 Hilger, Seuchen, S. 159; Evans, Tod in Hamburg, S. 296.
6 GeStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 3092, Blatt 1: „Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Cöln” vom Dienstag, 25. September 1866; Evans, Tod in Hamburg, S. 295.
7 StAK, Best. 623, Nr. 4244: Bericht des „Königlichen Kreisphysicus” Dr. Schulz an die Polizeidirektion Koblenz vom 25. Mai 1881.
8 Vgl. Statistische Übersicht 1864: 1864 lebten in der Kastorgasse noch 2.886 Menschen.
9 StAK, Best. 623, Nr. 4244, S. 54/55: Bericht des Königlichen Kreisbauinspektors Tetens vom 24. Juni 1882. Der in der Printversion des Altstadtbuches angegebene Name Peters ist falsch.
10 StAK, Best. 623, Nr. 4244, S. 55–58: Bericht des Königlichen Kreisbauinspektors Tetens vom 24. Juni 1882.
11 StAK, Best. 623, Nr. 4244, S. 58–61: Bericht des Königlichen Kreisbauinspektors Tetens von Juni 1882.
12 StAK, KH-84: „Vortrag über die sanitätspolizeilichen Verhältnisse der Stadt Coblenz, mit Rück auf die Trinkwasser-Frage. Gehalten in der Generalversammlung des hiesigen Zweigvereins für öffentliche Gesundheitspflege am 3. Mai 1870″, S. 3.
13 StAK, KH-84: „Vortrag über die sanitätspolizeilichen Verhältnisse der Stadt Coblenz, mit Rücksicht auf die Trinkwasser-Frage”, S. 5/6.
14 Vgl. Beiblatt zur Coblenzer Zeitung vorn 28. Januar 1875: Bericht über die Sitzung des Naturwissenschaftlichen Vereins vorn 26. Januar 1875.
15 Vgl. Coblenzer Zeitung vorn 24. Dezember 1876: Eine Wasserleitung war dringend notwendig, weil inzwischen die Ergiebigkeit der Quelle in Metternich, die die ehemalige kurfürstliche Wasserleitung versorgte, ständig abnahm.
16 StAK, KH-84: „Vorproject zur Wasserversorgung der Stadt Coblenz”.
17 Schnapauff, Frühe Wasserversorgung, S. 26; Gockel, Ernst Grahn, S. 254–257: Grahn war 20 Jahre lang Direktor der Gas- und Wasserversorgungsanlagen in den Essener Krupp-Werken gewesen. Nach seinem Ausscheiden hatte sich der Maschinenbauingenieur 1883 für sechs Jahre in Koblenz niedergelassen. Grahn war an der Errichtung von Gas- und Wasserwerken in mehreren deutschen und europäischen Städten maßgeblich beteiligt.
18 StAK, KH-84: „Die Wasserversorgung der Stadt Coblenz. Bericht über die diesjährigen Vorarbeiten verbunden mit dem Erläuterungsbericht zum Projecte für das Wasserwerk”.
19 StAK, KH-84: „Die Pumpstation des städtischen Wasserwerks in Coblenz. Entworfen und erbaut von E. Grahn Civil-Ingenieur in Coblenz. Zur Festschrift der 27. Hauptversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure in Coblenz 1886, Köln 1886″.
20 Bericht über die Verwaltung 1891/1892, S. 17/18; Bericht über die Verwaltung 1892/93, S. 14/15: Die Bezirksregierung erteilte ihre Genehmigung am 16. Januar 1892.
21 GeStA, Rep. 76 VIII A, Nr. 2858, fol. 129 r: Am 2. Oktober 1890 schrieb die Königliche Regierung in Koblenz an das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten: „[...] die Erfüllung dieser Bedingungen ist bisher an dem Umstände gescheitert, daß die zu solcher Reinigung und Klärung der Fäcalien erforderlichen Anlagen einerseits sehr großen Kostenaufwand erheischen und daß andererseits keines der in Gemeinden anderer Regierungsbezirke angewendeten Reinigungssysteme einen den heutigen wissenschaftlichen Verhältnissen entsprechenden Erfolg aufzuweisen hat [...]“
22 Krabbe, Leistungsverwaltung, S. 377.
23 Hartog, Stadterweiterungen, S. 23.
24 Bericht über die Verwaltung 1893/94, S. 23;

Bericht über die Verwaltung 1894/95, S. 22;

Bericht über die Verwaltung 1895/96, S. 24;

Bericht über die Verwaltung 1897/1898, S. 41.
25 Krabbe, Leistungsverwaltung, S. 378/379; Hartog, Stadterweiterungen, S. 23. Vorbild wurden vor allem folgende Wasserversorgungs- und Kanalisationsprojekte, die englische Ingenieure entwickelt hatten: In Hamburg entstand nach dem Stadtbrand von 1842 unter Leitung von William Lindley eine neue Kanalisation. Lindley entwarf auch das 1868
fertiggestellte Entsorgungssystem in Frankfurt. Die Stadtväter in Düsseldorf, Krefeld und Chemnitz, suchten den Rat des englischen Ingenieurs. In Berlin plante James Hobrecht ab 1872 ein selbstständiges Kanalsystem, welches sich nicht am Londoner Beispiel orientierte.
26 Zur Rolle der deutschen Reformer: Teuteberg, Eigenheim.
27 Vgl. Baumeister, Bauordnung und Wohnungsfrage, S. 7.
28 StAK, Best. 623, Nr. 4244: „Die Selbsthilfe der Laien zur Abwehr der Cholera zugleich Warnruf für das Bau- und Ingenieurwesen zur Abwehr der Herrschaft der Mediciner von W. Born, Ingenieur zu
Magdeburg, Magdeburg 1884″, S. 10.
29 StAK, Best. 623, Nr. 4244: „Die Selbsthilfe der Laien zur Abwehr der Cholera”, S. 19–23.
30 Quellen: Berichte über die Verwaltung; Jahresberichte der Handelskammer; Bellinghausen, 2000 Jahre Koblenz; v.d. Dollen, Koblenzer Neustadt.
31 Bis 1871 wird in den Statistiken das Militär nicht berücksichtigt. Aus den beiden gedruckten Datensammlungen kann man erst für die späteren Jahre erkennen, wie viele Männer mit ihren Familien der Militärbevölkerung angehörten.
32 Vgl. Bericht über die Verwaltung 1889/1891, S. 11.
33 Jahresbericht der Handelskammer 1862, S. 38.
34 LHA KO, Best. 441, Nr. 16682, S. 91–98: Brief des Landrates vom 18. Juni 1863.
35 StAK, Best. 623, Nr. 4241, S. 18–21: Brief des Polizeidirektors vom 6. Juli 1865.
36 GeStA, Rep. 77, Tit. 3572, Nr. 20, Bd. l, Bl. 10–23: Brief des Oberbürgermeisters Lottner an die Königliche Regierung vom 1. März 1871 (Abschrift).
37 StAK, Best. 623, Nr. 9228, S. 302: Brief der Handelskammer vom 15. Januar 1883.
38 StAK, Best. 623, Nr. 9228, S. 303: Brief der Handelskammer vom 15. Januar 1883. Erst am 1. April 1895 wurde das Gemeindesteuerwesen neu geregelt. Grund- und Gewerbesteuern fielen fortan an die Städte (vgl. Bär, Geschichte Koblenz, S. 140).
39 Johnen, Lützel, S. 78.
40 StAK, Best. 623, Nr. 9107, S. 69–72. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Herrn Hans-Josef Schmidt, Leiter des Koblenzer Stadtarchivs.
41 Coblenzer Volkszeitung vom 9. Oktober 1873.
42 Coblenzer Volkszeitung vom 21. Dezember 1873;

vgl. Coblenzer Zeitung vom 24. Mai 1913.
43 Bericht über die Verwaltung 1888/89, S. 47.
44 Coblenzer General-Anzeiger vom 25. Februar 1891: Gesundes Wohnen I.
45 Coblenzer General-Anzeiger vom 26. Februar 1891: Gesundes Wohnen II.
46 LHA KO, Best. 441, Nr. 19295; StAK, KH-5: „Bau-Polizei-Ordnung für die Stadt Coblenz vom 14. Juni 1881, Coblenz 1881″, S. 8, § 27.
47 Bei Grundstücken, welche eine durchschnittliche Breite von weniger als 11 Metern hatten, konnte die geringste Abmessung vier Meter betragen.
48 Bei Grundstücken mit einem Flächeninhalt von weniger als 200 Quadratmetern brauchte der Hofraum nur 30 Quadratmeter groß zu sein.
49 Vgl. Geist/Kürvers, Berliner Mietshaus, Bd. 2: In Berlin war eine Hofraumgröße von mindestens 5,60 x 5,60 Metern vorgeschrieben. Diese Mindestmaße sollten im Ernstfall die Aufstellung von Feuerwehr-Drehleitern ermöglichen.
50 Baupolizeirecht 1899, S. 18/19, § 22.
51 Baupolizeirecht 1899, S. 20–22, § 25.
52 Baupolizeirecht 1899, S. 18, § 21.
53 Coblenzer Volkszeitung vom 14. April 1905.
54 LHA KO, Best. 441, Nr. 19312: Brief vom 3. April 1905.
55 Coblenzer Zeitung vom 6. November 1906; vgl. Baupolizeirecht 1899, S. 43, § 57: Neufassung der Baupolizeiverordnung durch die Polizeiverordnung vom 23. März 1901.
56 Vgl. Coblenzer General-Anzeiger vom 5. November 1906; vgl. LHA KO, Best. 441, Nr. 16705: Die Kommunalbauten in der Bürgermeisterei Koblenz (Stadt).
57 Vgl. Coblenzer Zeitung vom 8., 12. und 17. November 1906.
58 Baupolizei-Verordnung 1932, S. 23.
59 StAK, Fach 21: An der Moselbrücke la.
60 StAK, Fach 46: Burgstraße 3 und 5.

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