Dr. Dr. Reinhard Kallenbach | Landeskundliche Forschung
   Dr. Dr. Reinhard Kallenbach | Landeskundliche Forschung

Teil 2

Vom Hospital zum städtischen Krankenhaus 2

1.5 Der soziale Staat

 

Bis weit in die 1850er-Jahre hinein waren die kommunalen Hospitäler in erster Linie Armenkrankenhäuser, die entweder über Zuschüsse aus der städtischen Armenfürsorge oder durch Spenden finanziert wurden. Kostendeckende Pflegesätze waren damals noch ebenso unbekannt wie ein flächendeckendes System von Kranken- und Versorgungskassen. In Preußen sollte das Krankengesetz von 1854 eine Grundlage schaffen, erbrachte Leistungen kostendeckend abzurechnen. Da aber die Einführung einer umfassenden Versicherungspflicht für weite Kreise der Bevölkerung noch in weiter Ferne lag, änderte sich in der Praxis wenig. Die Krankenhäuser waren weiterhin auf Zuschüsse sowie Geld- und Sachspenden angewiesen. Und die Ärzte arbeiteten gegen eine sehr geringe Bezahlung oder sogar ehrenamtlich. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie mit der eigenen Praxis.107

 

Den entscheidenden Durchbruch für die weitere Entwicklung hin zu einem modernen Krankenhaus ermöglichte auch in Koblenz erst die Verbesserung der Sozialgesetzgebung als Reaktion auf die schwere ökonomische Krise von 1873, in deren Verlauf zum ersten Mal ernsthafte Zweifel am dauerhaften Erfolg des freien Spiels der Kräfte aufgekommen waren.108 Der Staat kümmerte sich fortan um den Aufbau einer Kranken-, Invaliden- und Altersversicherung. Die neue „Zwangsversicherung“ entlastete die kommunale Armenfürsorge erheblich. Sie machte die Finanzierung von Kassenärzten und den Ausbau der in der Regel recht bescheiden dimensionierten Hospitäler zu Krankenhäusern überhaupt erst möglich.109 Die Auswirkungen des Bismarck’schen Gesetzes von 1883110 waren auch in Koblenz nicht zu übersehen. So wurde im gleichen Jahr in der Provinzhauptstadt eine Ortskrankenkasse gegründet. Die Folgen waren für die weitere Entwicklung des Medizinalwesens in der Stadt alles andere als unerheblich. So hatte das Bürgerhospital bereits im Jubiläumsjahr 1905 beachtliche Dimensionen angenommen. Damals betreuten die 34 Schwestern binnen eines Jahres 2763 Kranke.111

 

Die Initiativen im Bereich der Sozialgesetzgebung sollten nicht isoliert betrachtet werden, zumal es mit der Gründung von Sparkassen und Vorsorgekassen in Fabriken und auch im Handwerk eine Vorgeschichte gab. So markierte die preußische Gewerbeordnung von 1845, die auch die Gründung von Handwerkerinnungen zuließ, einen Wendepunkt.112 In Koblenz entstanden um 1850 die ersten Innungen. Allerdings sollte es noch bis zum Ende der 1880er-Jahre dauern, bis von einem Innungswesen im heutigen Sinne gesprochen werden konnte, da diese Form der handwerklichen Selbstorganisation seit der französischen Zeit in Öffentlichkeit und Verwaltung als überflüssig angesehen worden war.113

 

Entsprechend spät kam an Rhein und Mosel eine funktionierende soziale Absicherung für die Handwerker zustande, obwohl Meister mehrerer Gewerke eine Sterbekasse für das Koblenzer Handwerk gegründet hatten. Der Versuch, eine Krankenkasse für selbstständige Handwerker zu gründen, scheiterte bereits 1855 am Widerstand der Betroffenen. Nicht nur in Koblenz galten die Hilfskassen als unattraktiv, weil sie im Krankheitsfall nur ungern Leistungen erbrachten und sich darüber hinaus gegen die Aufnahme weniger wohlhabender, beitragsschwächerer Mitglieder sperrten.114 Erst 1901 wurde auf Betreiben der neu gegründeten Handwerkskammer Koblenz eine eigene Kranken- und Begräbniskasse für selbstständige Handwerker gegründet.115 Damit trifft für die Provinzhauptstadt die Behauptung in der überregionalen Forschung nicht zu, dass die vielerorts bereits vorhandenen Kassen der „Gesellen und Gehülfen“ zu einer ersten institutionellen Grundlage der staatlich geregelten Krankenversicherung und -versorgung auf kommunaler Ebene wurden. Im Gegenteil: Die durch die neue preußische Gewerbeordnung von 1869 eingeleiteten Entwicklungen gingen zunächst an Koblenz vorbei, weil funktionierende Kassen im Sinne des Gesetzes eben noch nicht existierten.116

 

Allerdings gab es in der Stadt sehr wohl Betriebskrankenkassen, deren Größe und tatsächliche Bedeutung sich nur in Ausnahmefällen bestimmen lässt. So hatte die 1794 in Koblenz gegründete Weinhandlung Deinhard, die sich später zu einer der bedeutendsten Sektkellereien in Deutschland entwickeln sollte, eine eigene Betriebskrankenkasse. Das ist vor allem das Verdienst des Teilhabers und Stadtverordneten Julius Wegeler (1836–1913), der sich in seiner Heimatstadt nicht nur als Präsident der örtlichen Handelskammer, sondern auch als sehr spendabler Kunstmäzen hervortun sollte. Überhaupt war das Wein- und Sekthaus Deinhard, das heute zu Henkell & Söhnlein in Wiesbaden gehört, ein für die damalige Zeit sehr sozialer Arbeitgeber – es gab sogar Werkswohnungen.117

 

Im Berichtsjahr 1889/90 der Stadtverwaltung existierten in Koblenz zwei Ortskrankenkassen und sechs Betriebs- krankenkassen. Diese Kassen unterstanden der Aufsicht des Oberbürgermeisters. Darüber hinaus gab es eine private „Hülfkasse“, mit der sich die Mitglieder im Falle einer Erkrankung gegenseitig unterstützten. Sie trug den Namen „St. Augustinus-Krankenkasse“ und unterstand der Aufsicht der Königlichen Polizeidirektion. Die Mitglieder waren von der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht befreit.118 Auch die Stadt Koblenz musste sich natürlich an das neue Gesetz halten. Und so beschloss die Stadtverordneten-Versammlung, die an die Ortskrankenkasse zu zahlenden „Eintrittsgelder und Kassenbeiträge“ für die Arbeiter zu übernehmen, die im Auftrage der Kommune bei Hoch- und Tiefbauarbeiten eingesetzt wurden – und zwar „mit Rücksicht auf die ärmlichen Verhältnisse der Arbeiter“. Die Stadtkasse übernahm deshalb den von den Arbeitern zu zahlenden Anteil.119

 

Wie hoch am Ende des 19. Jahrhunderts der Anteil der gesetzlich Versicherten in Koblenz war, lässt sich gut an den Angaben des Oberbürgermeisters Emil Schüller vor dem Hintergrund der „Influenza-Epidemie“ vom Dezember 1889 bis Februar 1890 ablesen, in deren Verlauf die neuen Kassen ihre erste große Bewährungsprobe bestanden. Demnach hatten allein die allgemeinen Ortskrankenkassen in den Jahren zwischen 1885 und 1889 durchschnittlich 2366 Mitglieder. Während der „Influenza-Epidemie“ stieg die Mitgliederzahl sprunghaft auf 3080 an. Hintergrund: Die neuen gesetzlichen Krankenkassen boten zumindest einen vorübergehenden Schutz vor einer Erwerbslosigkeit. Waren in den Jahren von 1887 bis 1889 im Schnitt 152 Personen erwerbslos, stieg die Zahl während der Grippewelle 1889/90 auf 527. Und: Die Mitglieder profitierten nicht nur vom Krankengeld, sondern auch von der Tatsache, dass die Kassen feste Honorare mit den Kassenärzten ausgehandelt hatten.120

 

In den folgenden Jahren sollte die Zahl der Versicherten weiter steigen. Auch die nicht versicherungspflichtigen Personen suchten schon früh nach Wegen, sich privat gegen Erkrankungen abzusichern. Vor diesem Hintergrund könnte Koblenz auch als eine Wiege der modernen privaten Krankenversicherung bezeichnet werden, wobei das Motiv zunächst war, die zahlreichen Beamten und anderen Beschäftigten in den Behörden der Stadt sozial abzusichern. So wurde am 2. Juli 1905 die Krankenunterstützungskasse für Gemeindebeamte der Rheinprovinz gegründet, die 1928 in Deutsche Beamten-Krankenversicherung – Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (Debeka) umbenannt wurde.121

 

Die schrittweisen Verbesserungen im sozialen Bereich waren Teil eines ganzen Maßnahmenpakets auf staatlicher und kommunaler Ebene – allerdings ein sehr wichtiger Teil. Die neue Sozialgesetzgebung verschaffte den Städten den Spielraum, um auch andere Bereiche anzugehen, die im Argen lagen. Dazu gehörte vor allem die Erweiterung der kommunalen „Gesundheits-Infrastruktur“ durch funktionierende Ver- und Entsorgungssysteme, die im Idealfall von privatwirtschaftlich organisierten Gesellschaften betrieben wurden. Deren Eigentümer blieben allerdings meistens die Kommunen. Dazu kamen die Förderung des Wohnungsbaus und der Ausbau des örtlichen Bildungswesens. Die Maßnahmen fanden auch Zustimmung in den Reihen der erstarkenden SPD, die zunehmend auch kommunalpolitisch aktiv wurde. In der Partei sprach man anerkennend von einem „Munizipalsozialismus“.122 

 

Anfang der 1880er-Jahre war ungefähr die Hälfte der gewerblichen Arbeiter Preußens gegen Krankheit versichert. Die neuen Krankenkassen hatten somit bereits rund eine Million Mitglieder.123 Das Reichsgesetz von 1883 über die Krankenversicherung der Arbeiter als Nachfolger der berufsgruppenbezogenen Zwangskassen, das sich bewusst gegen das konkurrierende System der freiwilligen Hilfskassen stellte, ließ die Zahl der Versicherten weiter steigen und eröffnete den Ärzten einen zuvor nicht gekannten Einfluss.124 Allerdings waren die Leistungen der neuen Krankenkassen noch auf die Heilbehandlung und Krankengeld bis zu maximal 13 Wochen begrenzt.125 Lag die Zahl der Mitglieder in einer der neuen gesetzlichen Zwangskassen 1885 noch bei 4,671 Millionen Mitgliedern, stieg sie bis 1905 auf 11,904 Millionen.126 Im gleichen Zeitraum war die Zahl der in der Regel örtlich organisierten neuen gesetzlichen Krankenkassen von 18.942 auf 22.695 gestiegen. Bis 1911 waren fast 21 Prozent der Bevölkerung in den neuen Kassen versichert, deren Zahl bis dahin auf 22.778 gestiegen war.127

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auf kommunaler Ebene die Gesundheitsfürsorge ausgebaut. So entstand 1905 in Köln eines der ersten städtischen Gesundheitsämter. Damit wurde ein Trend zur Zentralisierung auf der kommunalen Ebene eingeleitet, der sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter beschleunigen sollte. Hatten 1919 erst 17 deutsche Städte eigene Gesundheitsämter, stieg die Zahl bis 1931 auf 73. Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter stieg auf 300. Dazu kamen 1700 nebenamtliche Stadtärzte.128

 

Trotz verbesserter Rahmenbedingungen auf staatlicher und kommunaler Ebene war das Koblenzer Bürgerhospital nicht frei von Problemen. Dazu gehörte auch, dass weiterhin geeignete Räumlichkeiten zur Isolierung von Patienten fehlten. Das machte sich eben nicht nur in den Extremsituationen wie der Pockenkatastrophe von 1882 bemerkbar, sondern auch im Alltag. So wurde das Personal des Krankenhauses mit einer besonders gefährlichen Tröpfcheninfektion konfrontiert – der schon seit der Antike bekannten Tuberkulose. Die Krankheit breitete sich wieder einmal überall dort aus, wo die Lebensbedingungen der Menschen besonders schlecht waren – in dunklen, engen Altstadtquartieren, in denen die überbauten Innenhöfe eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Räume verhinderte.129

 

1.6 Aus der Krise zur optimalen Versorgung

 

Das 19. Jahrhundert sollte einen ungeheuren Schub für die medizinische Versorgung in Koblenz bringen.130 Am Anfang der rasanten Entwicklungen stand jedoch wieder einmal eine Krise. Im Hungerwinter 1817 hatte sich herausgestellt, dass die neue preußische Verwaltung Missernte, Teuerung und Armut noch nicht gewachsen war. In der Rheinprovinz formierten sich private Hilfsaktionen. Auch der berühmte Koblenzer Publizist Joseph (von) Görres (1776–1848) engagierte sich in der Sache. In dieser Zeit entstanden mehrere Vereine, die sich der Armenfürsorge annahmen. Die meisten von ihnen stellten ihre Arbeit jedoch schnell wieder ein. Die Ausnahme war ein Frauenverein, der nach dem Hungerjahr zwar von seinem Ziel abrücken musste, Kranke und Notleidende mit Nahrungsmitteln zu versorgen, aber schnell einen neuen Schwerpunkt fand. Fortan setzte sich der Verein für vernachlässigte und Not leidende Kinder ein. Schließlich entstand eine Freischule. Im Schöffenhaus auf dem Florinsmarkt wurden 90 Kinder unterrichtet und versorgt. Die Vereinsmitglieder überwachten nicht nur ihre Einrichtung, sondern übernahmen auch den Unterricht.

 

Spätestens in den 1860er-Jahren waren die Folgen der Not während der Revolutionsjahre überwunden. Das spiegelte sich auch in der Tatsache wider, dass die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens deutlich stieg. Ein Verzeichnis für das Jahr 1867 nennt die Gesamtzahl von 17 Ärzten zur Sicherung der medizinischen Versorgung in Koblenz. Dazu kamen zwei Wundärzte. 16 Ärzte und zwei Wundärzte standen für die Versorgung des in der Stadt und in den Vororten stationierten Militärs zur Verfügung. Schließlich gab es in der Stadt fünf Apotheken, in denen neben den Apothekern insgesamt sieben Gehilfen und vier Lehrlinge arbeiteten. Und nicht zuletzt hatte auch das Bürgerhospital weiter an Bedeutung gewonnen.

 

Ebenfalls 1867 wurden insgesamt 977 Kranke behandelt, die es zusammen auf eine stolze Summe von 71.979 Behandlungstagen brachten. Die durchschnittliche Verweildauer von 73,67 Tagen zeigt allerdings, wie begrenzt damals die medizinischen Möglichkeiten waren. Die Hauptfunktion des Hospitals als Pflegeanstalt für Bedürftige war immer noch deutlich spürbar. Das zeigt auch der Schnitt aus dem evangelischen Krankenhaus. Dort wurden 1867 250 Patienten behandelt. Die Gesamtsumme der Behandlungstage betrug 9465, die durchschnittliche Verweildauer lag somit bei „nur“ 37,86 Tagen.131

 

Angesichts dieser unwirtschaftlichen Verhältnisse wird deutlich, dass es ohne das Privatengagement des Koblenzer Bürgertums nicht gehen konnte. Schenkungen und Vermächtnisse für die sozial engagierten Vereine nahmen stetig zu. Auch die Institutionen, die eigentlich gar nicht zum Zweck der Fürsorge gegründet worden waren, stifteten beträchtliche Summen. So spendeten die Mitglieder der 1808 gegründeten Bürgergesellschaft „Casino zu Coblenz“ den Erlös ihrer geselligen Veranstaltungen. Auch das im gleichen Jahr ins Leben gerufene Musikinstitut ging mit gutem Beispiel voran. Die Überschüsse aus den Konzerten kamen den Bedürftigen zugute. Dies alles schmälerte die Verdienste und die Bedeutung des Frauenvereins nicht. Im Gegenteil: Der Verein erwarb 1833 die Gebäude des ehemaligen Barbaraklosters an der Ecke Löhrstraße/Pfuhlgasse. Teile des ehemaligen Klosters der Augustinerinnen, die zwischenzeitlich als Lazarett, Cholerastation und Pfandhaus genutzt worden waren, standen jetzt für eine Nutzung als Waisenhaus offen. Der Verein selbst benannte sich fortan nach seiner Neuerwerbung und gab sich den Namen „Katholischer Frauenverein St. Barbara“. Der Verein wuchs, die finanzielle Ausstattung wurde dank großzügiger Förderer immer besser.

 

1852 übernahm die preußische Prinzessin Augusta das Protektorat über den Verein und damit über die Gebäude, in die inzwischen die Schwestern „vom armen Kinde Jesu“ eingezogen waren. Diese Kongregation war im Februar 1844 von Clara Fey gegründet worden. Die Nonnen hatten auch die Leitung von Haus und Schule übernommen. Nur drei Jahre nach der Initiative Augustas wurden in der Einrichtung 100 Kinder betreut und gepflegt. Die Zeit dieses Ordens im Kloster sollte 1879 zu Ende gehen, als dieser infolge der im Bismarck’schen Kulturkampf verabschiedeten Maigesetze (1873) Deutschland verlassen musste. Es begann eine Zeit der Übergangslösungen, die 1898 durch den Einzug der Dernbacher Schwestern beendet wurde. Diese waren in Koblenz sehr aktiv und sollten später auch das Horchheimer Krankenhaus St. Josef übernehmen, das erst 1988 aufgegeben und unter gleicher Leitung zum Alten- und Pflegeheim umfunktioniert wurde.

 

1908 zog das von den Dernbacherinnen betreute Waisenhaus in das neue Kloster in der heutigen Waisenhausstraße um, wo es bis 1970 auch eine Abteilung zur Behandlung kranker Kinder gab. Teile des alten Barbaraklosters wurden kurz nach dem Umzug abgerissen und durch ein Geschäftshaus der Firma Tappiser & Werner ersetzt.

 

1.6.1 Evangelisches Stift St. Martin

 

Nicht nur die katholischen Koblenzer taten sich bei der Förderung der medizinischen Versorgung hervor, sondern auch die evangelische Minderheit – allen voran der ursprünglich aus Bad Kreuznach stammende Buchdrucker und Buchhändler Johann Friederich Kehr. Er gilt als Gründungsvater des Evangelischen Stifts St. Martin, das heute als einer von drei Standorten des Stiftsklinikums Mittelrhein in der Koblenzer Vorstadt angesiedelt ist. Die Anfänge der Einrichtung liegen jedoch in der Altstadt. 1844 wurde mit Unterstützung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. im Bereich des Görgenklosters (nach dem die Görgenstraße benannt ist) zunächst ein Waisenhaus und kurze Zeit später ein Frauenkrankenhaus eingerichtet. Erst elf Jahre später sollte eine Abteilung für Männer dazukommen. In der räumlich beengten Altstadt hatte das neue Krankenhaus allerdings auf Dauer keine Chance, sich weiterzuentwickeln. 1898 folgte schließlich der Umzug in das in der Kurfürstenstraße neu errichtete Krankenhaus. Dort übernahmen die Diakonissen bis 1964 die Krankenpflege.132

 

1.6.2 Brüderhaus und Marienhof

 

Nicht nur der konfessionelle Gegensatz zwischen den protestantischen Preußen und den katholischen Rheinländern, sondern auch der Geist der Romantik zündete den Funken, der schließlich zur Wiederentdeckung des Glaubens führte. Davon profitierte eklatant die katholische Kirche. Das 19. Jahrhundert ist nämlich auch eine Zeit der Ordensneugründungen. Zu den Pionieren gehörte der gelernte Schornsteinfeger Peter Friedhofen, der 1851 in zwei gemieteten Räumen in der Florinspfaffengasse 6 den Grundstock für eine geistliche Genossenschaft legte, die sich besonders intensiv der Krankenpflege widmete. Seine „Barmherzigen Brüder“ waren überaus erfolgreich. Die Bewegung wuchs. In der Kardinal-Krementz-Straße wurde schließlich ein neues Krankenhaus gebaut, das bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder erweitert und modernisiert wurde. Der heute noch bestehende Altbau konnte 1899 schließlich bezogen werden.

 

Philipp de Lorenzi war nicht nur Pfarrer von Liebfrauen, sondern auch Historiker. Er gehörte zu den bekanntesten Geistlichen der Altstadtgemeinde. Der Pastor regte auch die Gründung einer Schwesterngemeinschaft an, die 1857 von Irmina Hoelscher aus der Taufe gehoben wurde. Irmina Hoelscher stellte zunächst mit drei Gleichgesinnten ihr Leben in den Dienst der sozialen Arbeit. Die engagierten Frauen sollten schließlich unter der Bezeichnung „Schwestern vom Heiligen Geist“ bekannt werden. Aufgabe des noch jungen Ordens war von Anfang an die Pflege von Kranken. Ein weiterer Schwerpunkt: Die Schwestern übernahmen Erziehung und Unterricht von Kindern aus armen Verhältnissen. Ihre Arbeit verrichteten die Nonnen unabhängig von Herkunft und Konfession der zu Betreuenden. Bereits 1865 bezogen die Nonnen am Löhrrondell ein eigenes Gebäude. Dort wurden auch alte alleinstehende Frauen versorgt. Da auch dieser Gemeinschaft großer Erfolg beschieden war, wurden die räumlichen Voraussetzungen für die karitative und pflegerische Arbeit im Laufe der Zeit recht unbefriedigend.

 

1885 erwarb der Orden ein großes Grundstück in der Koblenzer Straße. Nur drei Jahre später wurde das neue Mutterhaus samt Kapelle eingeweiht. Auch dieses Gebäude sollte nicht ausreichen. Es wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch einen Neubau ergänzt, der bereits 1903 genutzt werden konnte.133 Die „Schwestern vom Heiligen Geist“ waren auch im Bereich der Altenpflege sehr aktiv. Im gleichen Jahr, in dem sie ihren Erweiterungsbau eröffneten, begann auch ihr Engagement in der Altenpflege. Ebenfalls 1903 übernahmen sie die Betreuung des neu erbauten Josefinenstifts in der Maria-Hilf-Straße des Stadtteils Lützel (der späteren Bonner Straße – heute Bundesstraße 9). Dieses Heim war eine Stiftung des Fräuleins de Haye (1831–1895). Die Dame lebte in der Viktoriastraße und war das letzte lebende Mitglied der begüterten Koblenzer Familie Balthasar de Haye.

 

1.6.3 Das Haus der Dominikanerinnen

 

Die Kongregation der Arenberger Dominikanerinnen begründete 1887 – wenige Jahre nach den Schwestern von der Heimsuchung – die zweite klösterliche Niederlassung im Ortskern von Moselweiß. Das St. Josefhaus war die erste Filiale des Mutterhauses und wurde von der Generaloberin Cherubina ins Leben gerufen. Fünf Schwestern trafen am 4. Juli 1887 in Moselweiß ein, um in erster Linie die ambulante Krankenpflege im Ort zu übernehmen. Das Haus, das die Schwestern bezogen, war Eigentum der Arenberger Dominikanerin Schwester Dominika Sauer und ihres verstorbenen Bruders Josef Sauer gewesen.

 

Die Genehmigung für die neue Niederlassung war von der Regierung bereits 1886 „behufs Ausübung der Krankenpflege“ erteilt worden. Zugleich – so heißt es wörtlich – hatten die beteiligten Herren Minister der Genossenschaft gestattet, als Nebentätigkeit eine „Kleinkinderbewahrschule“ zu übernehmen. Mit tatkräftiger Hilfe des damaligen Moselweißer Pastors Johann Baptist Klee war es möglich, bereits 1896 mit einem großzügigen Um- und Neubau zu beginnen. Zunächst als Altenheim gedacht, richteten die Schwestern ihr neues Haus – nachdem ein Operationssaal angefügt worden war – schließlich als Krankenhaus für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke ein. 1899 kamen die ersten Patienten ins Haus.134 Neben dem Krankenhaus betreuten die Dominikanerinnen die ambulante Krankenpflege in Moselweiß. Für die noch nicht schulpflichtigen Kinder unterhielten die Schwestern eine „Bewahrschule“.135

 

1.6.4 Die Heilanstalt Bad Laubach

 

In der südlich der Koblenzer Vorstadt gelegenen Laubach hatte sich lange Zeit eine Hinrichtungsstätte befunden. Ausgerechnet dort sollte eine Kuranstalt entstehen. Diese merkwürdige Wendung wurde mit dem Bau der neuen Landstraße am Rhein möglich, der am Anfang des 19. Jahrhunderts begann. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung der aufkommenden Dampfschifffahrt, die entscheidende Auswirkungen auf die Entwicklung des Fremdenverkehrs hatte. Vor diesem Hintergrund war es durchaus sinnvoll, das Gelände am Fuße des Rittersturzes zu erschließen. 1840 wurde eine Aktiengesellschaft gegründet. Sie war Träger der neu zu errichtenden Kaltwasserheilanstalt für Nervenkranke. Das Beteiligungsmodell hatte offenbar Erfolg. Bereits 1843 wurde über die Abgabe von Steinen für die Erweiterung der Wasserheilanstalt verhandelt. Und wieder wurde das Projekt über Aktien finanziert. Im März 1844 zeichneten 22 Aktionäre insgesamt 66 Aktien.136 Insgesamt wurden acht Gebäude errichtet, die eine Kapazität von insgesamt 150 Betten hatten.

 

„Bad Laubach“ wurde sehr beliebt und war zeitweise sogar ein gesellschaftlicher Mittelpunkt am Mittelrhein, zumal auch viele Gäste aus dem Ausland kamen. Die neue Anstalt, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebte, hatte eine Liege- und Wandelhalle, einen Lese- und Billardsaal und eine Kegelbahn.137 Noch 1867 „kurten“ 560 Patienten an insgesamt 19.772 Tagen. Die durchschnittliche Verweildauer betrug somit 35,3 Tage.138 Obwohl in erster Linie für Privatpatienten gedacht, hatte die Heilanstalt sehr wohl eine gemeinnützige Funktion: Es bestand die Möglichkeit, dass mittellose Kranke dort gratis behandelt wurden. Zu diesem Zweck wurde am   10. November 1859 eine Stiftung gegründet, die die Kur der Kranken bezahlen sollte.139 Diese Idee wurde in Koblenz relativ früh in die Tat umgesetzt. In Berlin übernahm man einen solchen Vorstoß erst fünf Jahre später. Im böhmischen Marienbad sollte ein Krankenpensionat gestiftet werden, um „Unbemittelte aus dem Civil- und Militairstande“ zu pflegen und zu betreuen.140

 

Die Koblenzer Stadtverwaltung versuchte aber auch, mittellose Kranke zur Behandlung in benachbarte Kurorte zu schicken. Dies zeigt ein Brief von Hubert-Josef Cadenbach nach Aachen vom Juli 1864. Darin bat er, den mittellosen Steuereinnehmer Friedrich Rudolph unterzubringen, damit dieser die ärztlich empfohlenen Bäder nehmen konnte.141 Solche Anträge hatten durchaus Aussicht auf Erfolg, wie weitere Briefe des Oberbürgermeisters zeigen. So gab die „Herzoglich Nassauische Hospitalbad Commission“ in Bad Ems im August 1863 einem entsprechenden Gesuch statt.142 Ein Jahr später weist ein Register bereits 23 Personen aus dem Bereich der heutigen Altstadt aus, die in Bad Ems kurten. In den Jahren 1870 und 1871 waren es immerhin noch jeweils 14 Personen.143

1.6.5 Das Hospital in Ehrenbreitstein

 

Die alte trierische Stadt Ehrenbreitstein wurde erst 1937 eingemeindet. Bis dahin war die ehemalige Residenz der Erzbischöfe und Kurfürsten selbstständig und hatte eigene Einrichtungen der sozialen Fürsorge. 1850 wurde im Obertal auch ein eigenes Kranken- und Waisenhaus gegründet. Die Entscheidung fiel allerdings nicht ganz unfreiwillig: Den entscheidenden Ausschlag gab eine Cholera-Epidemie, die in der Bürgermeisterei Ehrenbreitstein 77 Menschenleben gefordert hatte (vgl. S. 49). Die Opfer hinterließen 20 elternlose Kinder, die versorgt werden mussten.144

 

Am Anfang stand ein gutes Geschäft für die katholische Pfarrgemeinde Heilig Kreuz. Margarethe Fensterer und ihr Gatte, der Arzt Dr. Franz Fensterer, verkauften drei aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Gebäude zu einem stark ermäßigten Preis von 5000 Talern. Zunächst hatte die Pfarrgemeinde nur eines der Gebäude genutzt.145 Zu diesem Zeitpunkt war die Einrichtung streng genommen noch kein Hospital, sondern ein reines Waisenhaus. Details wurden in einem Vertrag zwischen der städtischen Armenkommission und der Verwaltung des neuen „Waisen- und Armenhauses“ geregelt. Eigentümerin blieb die Pfarrgemeinde.146 Schnell stellte sich heraus, dass die Kapazitäten nicht ausreichten. Schon 1850 stieg die Zahl der betreuten Waisenkinder auf 27, ein Jahr später auf 28.147 Auf Initiative der Pfarrgemeinde und wohlhabender Bürger, konnte schließlich ein neues Gebäude errichtet werden. 1854 wurde die ältere Bausubstanz abgebrochen, zwei Jahre später war ein großes dreigeschossiges Gebäude fertig. Der Neubau wurde 1886 noch einmal um einen Flügel erweitert.148

 

Den Dienst übernahmen wie im Falle des Kemperhofs die Schwestern von der Gemeinschaft des heiligen Karl Borromäus. Für die Errichtung des Baus zeichnete Oberst von Cohausen verantwortlich, der als Schöpfer der preußischen Stadtbefestigung Ehrenbreitsteins gilt und auch wegen seiner archäologischen Studien heute noch bekannt ist.149 Doch trotz der Erweiterungen blieb die Einrichtung streng genommen ein Asyl für Alte, Kranke und Waisenkinder. Die Behandlung von Kranken spielte eine untergeordnete Rolle, was auch die Statistik zeigt. So wurden 1869 nur 40 Einheimische und 118 auswärtige Patienten behandelt.150 Erst 1886 wurde der erste hauptamtliche Arzt fest eingestellt. Es war der Armenarzt Dr. Istas.151

 

In den folgenden Jahren bemühte man sich um die Verbesserung der medizinischen Ausstattung, zumal die Einrichtung schon allein aufgrund der schlechten Ausstattung der örtlichen Armenkassen mit dem Aufkommen der gesetzlichen Krankenkassen immer mehr zur Belegklinik für die Patienten der niedergelassenen Ärzte wurde. So richtete man 1893 einen Raum für die Desinfektion ein, kurze Zeit später wurden endlich auch die Toiletten an die örtliche Wasserleitung angeschlossen.152 Wie auch im Koblenzer Hospital fehlten jedoch Möglichkeien, Infektionskranke vernünftig zu isolieren. So kritisierte der Kreisarzt im Spätsommer 1910 gänzlich unhaltbare Zustände. Allerdings kündigte Krankenhausarzt Dr. Istas den baldigen Bau eines Isolierhauses an.153 Dazu scheint es aber nicht gekommen zu sein.

 

Der Erste Weltkrieg machte den Verantwortlichen einen Strich durch die Rechnung. Während der Kriegsjahre musste die Einrichtung bis zu 700 verwundete oder kranke Soldaten gleichzeitig versorgen.154 Vor diesem Hintergrund und dem allgemein schlechten Zustand des Hospitals entschied man sich schließlich, das Waisenhaus aufzugeben. Die Konsequenz: Der Hospitalgedanke wurde endgültig aufgegeben. 1921 wurde die Anstalt in das Krankenhaus St. Joseph umgewandelt,155 das trotz der Kriegsschäden und des Brandes von 1948 noch in den 1970er-Jahren bestand. Erst zu Beginn der 1990er-Jahre wurden die Krankenhausgebäude im Zuge der Stadtteilsanierung abgebrochen.

 

1.7 Maßnahmen gegen die Tuberkulose

 

Obwohl die Tuberkulose fast ständig präsent und in der Summe sogar verhängnisvoller als die neuen Epidemien war, spielen die Maßnahmen in den Kommunen gegen die Tbc156 in der historischen Forschung eine eher untergeordnete Rolle. Das hat Gründe. Hatte der Kampf gegen die anderen gefährlichen Infektionskrankheiten Cholera, Pocken und Typhus für die Verwaltung stets eine vorrangige Bedeutung, wurde der Tuberkulose als „Krankheit der Armen“ lange Zeit auch in den amtlichen Quellen weniger Aufmerksamkeit zuteil – und das, obwohl sie, so Christoph Gradmann, „die epidemiologisch besehen wichtigste Infektionskrankheit des 19. Jahrhunderts“ war.157 Das änderte sich allmählich nach dem Bekanntwerden der Entdeckung des Tuberkelbazillus durch Robert Koch am 24. März 1882 in Berlin. Und als der wohl meistumjubelte Forscher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 1890/91 das Tuberkulin als Heilmittel gegen die Tuberkulose marktreif entwickelte, glaubte man, die Volkskrankheit endlich in den Griff zu bekommen. Doch das neue Medikament war umstritten, weil es trotz mehrfacher Verbesserungen keine objektiv nachweisbaren Heilerfolge brachte. Robert Koch musste sich schließlich sogar den Vorwurf gefallen lassen, ihm ginge es ausschließlich um persönliche Bereicherung.158

 

Unabhängig vom Wirbel um Robert Koch und seinen Entwicklungen wurden bereits in den 1880er-Jahren die Forderungen nach besonderen Heilstätten für „Unbemittelte“ immer lauter. Der Arzt Hermann Brehmer hatte bereits in seiner Dissertation von 1856 herausgestellt, dass sich die Tuberkulose an abgelegenen Orten, an denen es die Infektion nicht gab, gut bekämpfen ließ. Diese These führte zur Entstehung einer regelrechten Volksbewegung.159 So gründeten Hannoveraner Ärzte 1888 den ersten „Heilstätten-Verein“, der Tuberkulosekranken in Einzelfällen sogar eine Kur im Harz bezahlte. Oft sollten Betroffene auf ebensolche Privatinitiativen angewiesen bleiben. Die Situation verbesserte sich zumindest für einen kleineren Teil der Patienten, weil 1891 eine für die „arbeitende Klasse“ eingerichtete Kranken- und Invalidenversicherung die Kosten übernahm.

 

Nur ein Jahr später wurde in Falkenstein im Taunus die erste Volksheilstätte gegründet. 1896 nahm dann das „Deutsche Zentralkomitee zur Errichtung von Heilstätten für Lungenkranke“ seine Arbeit auf, das kein Träger, sondern vielmehr eine Koordinierungsstelle für die flächendeckende Einführung von Volksheilstätten war. 1899 gab es einen weiteren entscheidenden Fortschritt: Die Landesversicherungsanstalten übernahmen die Kosten der Behandlung von Tuberkulose, was die Kommunen schließlich deutlich entlasten sollte.160 Diese Entlastungen dürften nicht unerheblich gewesen sein. Galt die Tuberkulose doch als „Volkskrankheit“, was sich schon allein durch die hohen Opferzahlen belegen lässt. Im Deutschen Reich starben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jährlich 100.000 Menschen an der Infektionskrankheit.161 

 

Auch im Regierungsbezirk Koblenz versuchte man, der besorgniserregenden Entwicklung Herr zu werden. So bemühte sich Regierungspräsident August Freiherr von Hövel in einem Rundschreiben an die Landräte um Aufklärung und verwies auf die Diskussionen in der 15. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, bei der der Kampf gegen die Tuberkulose vor allem vom Kieler Arzt Prof. Dr. Heller thematisiert worden war.162 Hellers Vorschläge flossen schon im März 1891 direkt in die „Maßnahmen zur Verhütung der Schwindsucht“ ein, weil auch im Landkreis Koblenz eine erhebliche Zunahme der Tuberkulose-Fälle zu beobachten war. Die Behörden führten dies hauptsächlich auf den „getrockneten, verstreuten“ Auswurf zurück. Man forderte deshalb das Aufstellen von Spucknäpfen in öffentlichen Lokalen und die regelmäßige feuchte Reinigung von Räumlichkeiten. Darüber hinaus wies die Bezirksregierung auf die Ansteckungsgefahr über Lebensmittel hin.163

 

Auch die Stadt Koblenz nahm die Überwachung von Lebensmitteln sehr ernst, was nicht nur die Entwicklungen um den 1890 fertiggestellten Schlachthof zeigen. Das Augenmerk der Kontrolleure richtete sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem auf die Milch. Man wusste, dass Milch sehr wohl „Tansporteur“ des Tuberkuloseerregers sein konnte, vor allem dann, wenn sie nicht pasteurisiert war.164 Außerdem war man aus anderen Städten gewarnt, in denen sich die „Lebensmittelskandale“ rund um die Milch häuften. „Panschereien“ waren an der Tagesordnung. Dafür waren allerdings in der Regel nicht die Bauern verantwortlich, sondern die Händler. Diese verdünnten die Milch oft gerne mit Wasser, oder verschlechterten die Qualität durch das „Abrahmen“. Um der verdünnten Milch und ihrem bläulichen Schimmer die ursprüngliche Farbe zurückzugeben, gab es mehrere Möglichkeiten: Harmlose Alternative war die Zugabe von Zucker und Stärke, während skrupellose Kaufleute auch nicht vor der Beigabe von Kreide, Gips oder Gummi zurückschreckten. Besonders gefährlich wurde es in den Sommermonaten, wenn die Milch infolge fehlender Kühlung schneller sauer wurde und die Händler dieses durch die Zugabe von „absorbierenden Alkalien und Erden“ zu vertuschen suchten.165

 

Schließlich häuften sich auch in Koblenz die Klagen über die „fortgesetzte Verfälschung“ der Milch. Polizeidirektor und Landrat Jakob Franz Freiherr von Frentz informierte im Juli 1877 den Koblenzer Oberbürgermeister Karl-Heinrich Lottner darüber, dass er nach dem Vorbild anderer Städte beabsichtigte, entsprechende polizeiliche Kontrollen vorzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kreisphysikus Dr. Schulz bereits angeboten, „die Polizeibeamten in einem Cursus ausreichend zu instruieren“. Darüber hinaus plante man, die zur Untersuchung der Milch erforderlichen Geräte anzuschaffen.166 Diese Geräte standen im Spätjahr 1877 zur Verfügung.167 Und schließlich konnte man sich auf verbesserte gesetzliche Grundlagen berufen. Eine war insbesondere das Reichsgesetz über den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen vom 14. Mai 1879. Es räumte den Behörden erhebliche Zugriffsrechte ein.

Wer gesundheitsgefährdende Nahrungs- oder Genussmittel in Umlauf brachte, musste mit Gefängnisstrafen und dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte rechnen.168

 

Und auch in späteren Jahren sollte man in Koblenz auf der Hut sein. Zwar hatte die Kommunalverwaltung grundsätzlich an einer Verbesserung der Milchversorgung für alle Bevölkerungsschichten Interesse, doch überwachte man Herkunft und Ruf potenzieller Anbieter sehr genau. Dies zeigen auch die Vorgänge um die Aufstellung von sogenannten „Milchhäuschen“ in den Jahren von 1904 bis 1906. Am Ende der Untersuchungen erhielt die „Gemeinnützige Gesellschaft für Milchausschank in Rheinland und Westfalen“ mit Sitz in Düsseldorf den Zuschlag.169 Man entschied sich damit gegen das Angebot von C.W. Borth aus Bonn, der sich mit der Versicherung beworben hatte, die erforderliche Bonität und einen guten Leumund zu besitzen.

 

Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus. Nachforschungen in Bonn ergaben, dass Borth ein ehemaliger Nachtwächter war, der es durch Heirat zwar zu Vermögen gebracht, aber seit Jahren nicht gearbeitet hatte und „[…] oft zu jeder Tages- und Nachtstunde betrunken auf der Straße getroffen wurde. […]“170 Bis Ende 1911 wurden schließlich durch die „Gesellschaft für Milchausschank“ im Stadtgebiet fünf Milchhäuschen aufgestellt, ein weiteres sollte folgen. Ingesamt gesehen, gab es damals in Koblenz 85 öffentliche Schankstellen – darunter allein 23 Selterwasserbuden – für alkoholfreie Getränke, die die Behörden im Blick hatten.171

 

Weit nachlässiger als bei der Lebensmittelüberwachung war man bei der Realisierung der von der Bezirksregierung geforderten Naherholungsheime zur Behandlung von „Lungenkranken“. Immer wieder drängte Regierungspräsident August von Hövel die Koblenzer Kommunalverwaltung, auch im örtlichen Stadtwald ein Erholungsheim einzurichten. Im Oktober 1903 erinnerte Regierungspräsident Hövel daran, dass der „Waldheilstätten Verein vom Roten Kreuz in Berlin“ innerhalb von drei Jahren in der Umgebung von Berlin sechs Erholungsstätten eingerichtet habe, um „arbeitsunfähige Kassenkranke den Tag über in den Wald zu schaffen, dort zu verpflegen und  auch dem ungünstigen Einfluss der engen luft- und lichtarmen Wohnungen zu entziehen“. Der Regierungspräsident betonte, dass die Heime ohne hohe Kosten realisiert und sehr gut angenommen wurden. So sei die Zahl der Besuchstage von 1900 bis 1902 von 12.011 auf 55.200 gestiegen. Der Erfolg war so groß, dass noch 1902 weitere Heime in Posen, Halle, Hannover und Kassel eingerichtet wurden. Vor diesem Hintergrund forderte August von Hövel die Stadt Koblenz zur Berichterstattung über die mögliche Errichtung von Naherholungsheimen auf, wobei die Verwaltung sich auch mit dem „Vaterländischen Frauen-Verein“ abzustimmen suchte.172

 

Die dem Oberbürgermeister gesetzte Frist bis zum           1. Januar 1904 verstrich ohne Reaktion. Erst nach Ermahnung nahm die Stadt in einem Bericht vom 29. Februar 1904 Stellung, wobei sie sich auf die Ergebnisse einer Untersuchungskommission berief und auf Zeitgewinn setzte. Aus folgender Antwort an die Bezirksregierung lässt sich deutlich ablesen, was man in Koblenz von einem Naherholungsheim hielt: „[…] Die Commission ist zwar der Ansicht, dass die Errichtung solcher Erholungsstätten zwar wünschenswert erscheint, glaubt aber, daß sich der Cob[lenzer] Stadtwald hierzu nicht recht eigne, weil er, vollständig bergig gelegen, nur wenige bequeme Aufstiege biete. Ist nun der Cobl[enzer] Stadtwald an sich schon der Zielpunkt [von vielen] Einheimischen und Fremden, so pflegen vorzugsweise gerade diejenigen Plätze stark aufgesucht zu werden, zu denen die wenigen bequemen Aufstiege führen. Schon aus diesem Grunde kann es nicht wünschenswert erscheinen, dort Erholungsstätten für Kranke und Rekonvaleszenten zu errichten. Die anderen Teile des Stadtwaldes aber, welche zu diesem Zwecke zur Verfügung gestellt werden könnten, sind verhältnismäßig schwer zu erreichen und so weit von der Stadt entfernt, daß eine Verpflegung schon schwierig und teuer werden würde. […]“173 Eine Alternative nannte die Verwaltung jedoch nicht, sodass man den Bericht durchaus als eine Sammlung der besten „Totschlagargumente“ sehen kann. Regierungspräsident Hövel ließ jedoch nicht locker und stellte in Aussicht, dass es für die Umsetzung des Projektes erhebliche Zuschüsse von der Provinz geben könnte.174

 

Die Stadt, die durch die Stadterweiterungsmaßnahmen ohnehin stark belastet war, verzögerte verständlicherweise die Entscheidung für oder gegen ein Naherholungsheim. Mit Erfolg. Das Projekt verlief schließlich im Sande – wohl auch, weil man berechtigte Zweifel am wirtschaftlichen Erfolg des Projektes hatte. Zu dieser Zeit war nämlich das Bürgerhospital trotz der erheblichen Erweiterungen, einer deutlichen Erhöhung der Patientenzahlen und des Ausbaus des Krankenversicherungswesens in eine „Finanzfalle“ geraten. Hatte das Vermögen bis 1885 noch einen Wert von rund 400.000 Mark, sank es kurze Zeit später um 50 Prozent. 1894 erreichte schließlich das reine Geldvermögen mit 77.221 Mark einen absoluten Tiefstand. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. So verdoppelte sich zwischen 1875 und 1891 der Verpflegungshaushalt, bis 1904 lässt sich sogar eine Verdreifachung feststellen. Entscheidend für die ungünstigen Entwicklungen dürfte aber vor allem die Höhe der Personalkosten gewesen sein, die sich mehr als verdoppelten.175

 

Das Bürgerhospital hatte sich aller Schwierigkeiten zum Trotz am Anfang des 20. Jahrhunderts endgültig als Pflegeeinrichtung etabliert. Das zeigen auch die Vergleichszahlen aus dem Regierungsbezirk. Kamen 1880 auf 10.000 Einwohner nur 70 Krankenhauspatienten, waren es 1913 bereits 373. Im gleichen Zeitraum ging die Sterblichkeitsrate um 44 Prozent zurück, was nicht nur auf die verbesserte medizinische Versorgung zurückzuführen ist, sondern auch auf die großen Ingenieurleistungen jener Zeit. Auch in Koblenz und Umgebung lässt sich beobachten, dass das Sinken der Sterblichkeitsraten mit der fortschreitenden Verbesserung der Trinkwasserversorgung und der völligen Neuordnung der Kanalisation einhergeht. Gab es 1880 auf 10.000 Einwohner im Regierungsbezirk Koblenz noch 257 Sterbefälle, waren es 1913 nur noch 145. Mit diesem Wert lag der Raum Koblenz im Vergleich zu den anderen preußischen Regierungsbezirken im oberen Mittelfeld. Zum Vergleich: Im Regierungsbezirk Düsseldorf ging die Zahl der Sterbefälle sogar um 50 Prozent zurück.176 Thomas Tippach hat – wie Tabelle 4 zeigt – den Rückgang der Sterblichkeitsrate für das Koblenzer Stadtgebiet ermittelt. Ergebnis: Zwischen 1871 und 1908 gingen die Todesfälle in der Zivilbevölkerung um die Hälfte zurück. Rechnet man die Angehörigen des Militärs dazu, ergibt sich immer noch ein Rückgang um ein Drittel.177

 

Trotz der günstigen Entwicklungen blieb die Tuberkulose ein ernsthaftes Problem, und die schlechten Isolierungsmöglichkeiten im Bürgerhospital waren allgemein bekannt. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts verhandelte man in den städtischen Gremien ernsthaft über den Bau eines neuen Krankenhauses. Die schlechten Möglichkeiten der Krankenisolierung und die Mängel des im Hospital vorhandenen Desinfektionsraums waren spätestens seit 1902 immer wieder ein Thema.178 Das änderte sich auch nicht nach der Verbesserung der Zustände im Zuge der Umnutzung des früheren Epidemiehauses in der Boninstraße. Dramatisch wurde es nach Ende des Ersten Weltkrieges. So teilte das preußische Ministerium für Volkswohlfahrt mit, dass die Tbc vor allem in den Jahren 1919 und 1920 zugenommen habe.179 In Koblenz ging im Vergleich zum „Rekordjahr“ 1917 mit 142 Opfern zumindest die Zahl der Toten zurück. So starben 1924 46 der in Koblenzer Krankenhäuser eingelieferten Patienten an der Infektionskrankheit. Ein Behandlungsschwerpunkt war die neue städtische Krankenanstalt auf dem Kemperhofgelände, die in ihrem ersten vollen Betriebsjahr 312 Betten zur Verfügung stellte und insgesamt 2791 Patienten behandelte. In den Kemperhof wurden auch die meisten Tbc-Patienten eingeliefert. 26 der 225 Tbc-kranken Männer und Frauen starben.180 In der Bilanz für das Jahr 1925 meldete der Kemperhof bei 2780 behandelten Patienten einen deutlichen Rückgang der Tbc-Fälle. Sie lagen nun bei 135. 21 dieser Patienten starben.181

 

Die Abnahme der Tbc-Patienten mag ein Hinweis darauf sein, dass sich die Lebensbedingungen an Rhein und Mosel endlich wieder verbesserten und die Maßnahmen der Weimarer Zeit für die öffentliche Gesundheitspflege allmählich griffen. Der relativ hohe Anteil der Toten spricht dafür, dass nur noch schwere Fälle in die Koblenzer Krankenhäuser eingeliefert wurden. Das bedeutete gleichzeitig, dass das Personal in den einzelnen Anstalten doppelt auf der Hut sein musste. Und genau deshalb war der Bedarf an besonders ausgebildeten Desinfektoren da. Entsprechende Lehrgänge bot weiterhin die „Desinfektorenschule“ des Staatlichen Medizinal-Untersuchungsamt an. Diese Einrichtung unterstand wiederum der Bezirksregierung Koblenz.182 Auch das Arenberger Caritashaus lud zu den gut zweiwöchigen Kursen ein. Die Zielgruppe dieser Einrichtung waren Krankenschwestern.183

 

Erst mit dem Aufkommen von Antibiotika nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Tuberkulose allmählich ihren Schrecken. Eine stationäre Behandlung war fortan nur bei besonders fortgeschrittenen Fällen erforderlich. Zu diesem Zweck errichtete man in den Jahren 1952 und 1953 auf dem Kemperhofgelände das sogenannte „Lungenhaus“, das eine der modernsten Tbc-Stationen in Deutschland sein sollte. Dennoch war die Tuberkulose noch längst nicht besiegt. Noch 1968 erkrankten im Stadtgebiet 94 Menschen neu daran. Davon starben vier. Die Anzahl der „aktiven Fälle“ lag bei insgesamt 354. Im gleichen Zeitraum waren im damaligen Landkreis Koblenz 96 Personen erkrankt. Sieben Todesfälle waren zu beklagen. Die Gesamtzahl lag bei 317 Betroffenen.184 Und auch heute noch muss täglich mit Tuberkulosefällen gerechnet werden, zumal weltweit nach wie vor täglich 5000 Menschen an der Infektionskrankheit sterben.185 Tuberkulose ist in Osteuropa nach wie vor ein großes Problem, das jederzeit nach Deutschland „exportiert“ werden kann. Dass ein Restrisiko bleibt, zeigte sich zum Beispiel im Herbst 2000 an der Universität Trier. Von dort wurde im September ein Tuberkulosefall gemeldet, im Dezember kamen zwei weitere dazu.186

 

1.8 Die Desinfektionsanstalt

 

Auch wenn in Kiel 1875 die erste aseptische Klinik der Welt eröffnet wurde, sollte es noch lange dauern, bis alle deutschen Krankenhäuser über Möglichkeiten verfügten, Patienten keimfrei zu behandeln. Um dies zu gewährleisten, mussten nicht nur entsprechende Operationssäle, sondern auch Desinfektionsanstalten geschaffen werden. Dass Beispiel des Koblenzer Bürgerhospitals zeigt, dass dies alles andere als leicht war. Allerdings hatten auch andere Städte dieses Problem – wie folgende Bemerkungen eines Professors Dr. Kirchner in der Ärztlichen Sachverständigenzeitung vom September 1902 verdeutlichen: „Studien wie diejenigen des Jesuitenpaters Athanasius Kircherus, der in den 70er-Jahren des 17. Jahrhunderts als erster Mikroorganismen beschrieb, und des Delfter Privatgelehrten Antony van Leuwenhoek, der Anfangs des 18. J[ahrhunderts] mit Hilfe seiner noch unvollkommenen Linsen Bakterien entdeckte, waren Lichtblitze in einer dunklen Nacht, die ohne Folgen blieben. Selbst einem Henle187, der in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Notwendigkeit der Annahme belebter Krankheitskeime treffend begründete, gelang es weder dieselben nachzuweisen noch die wissenschaftliche Welt von der Richtigkeit seiner Anschauung zu überzeugen.

 

Erst die bahnbrechenden Arbeiten von Louis Pasteur und Robert Koch und dem Bienenfleiss ihrer zahlreichen Schüler ist es zu danken, dass die belebte Natur der Krankheitsgifte heute als eine allgemein anerkannte Tatsache gilt. Auch diejenigen, welche zwar die Krankheitskeime als belebte Mikroorganismen nicht mehr leugnen können, sie aber, von  der wunderlichen Theorie des Nosoparasitismus188 befangen, nicht als Ursache, sondern als Folge- und Begleiterscheinungen der Krankheit hinstellen möchten, werden bald genug ausgestorben sein.“189

 

Kirchner schreibt weiter: „Von einer Uebersetzung unserer theoretischen Kenntnisse in die Praxis der Seuchenbekämpfung sind wir jedoch auch heute bedauerlicher Weise noch weit entfernt. Zwar haben wir im Reich seit dem 30. Juni 1900 in dem ,Gesetz betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten‘, welches von Leuten, die seine Bedeutung nicht erkannt  haben, befremdlicher Weise durch die Bezeichnung als kleines Seuchengesetz in dem Urteil der Ärzte herabgesetzt wird, ein Gesetz, welches den Ergebnissen der neueren Forschung auf dem Gebiete der Infektionskrankheiten voll Rechnung trägt und sich je länger desto mehr als eine schneidige Waffe in der Hand befähigter Amtsärzte  bewähren wird. Auch ist gegründete Hoffnung vorhanden, dass in Preussen das seiner Zeit treffende, aber nunmehr veraltete Regulativ vom 8. August 1835 durch ein auf modernen Anschauungen fussendes Seuchengesetz ersetzt werden wird.“190

 

Bemerkenswert ist, dass Kirchner gegen den Einsatz mobiler Desinfektionsapparate außerhalb der Kliniken plädierte. Sein Argument: Der Schaden war größer als der Nutzen, weil spätestens beim Rücktransport der Apparate in die Krankenhäuser Infektionskrankheiten eingeschleust werden konnten. Vor diesem Hintergrund forderte der Professor den Bau von Desinfektionsanstalten durch die  Kommunen.191 Doch genau davon war man im Koblenz des Jahres 1902 noch ein gutes Stück weit entfernt. Eine Desinfektionsanstalt gab es nämlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wohl aber zwei mobile Apparate, die im Bürgerhospital „stationiert“ waren. Allerdings lassen sich die Anfänge des Desinfektionswesens in der Stadt sowie Art und Funktion der Geräte mithilfe der städtischen Akten nur unzureichend rekonstruieren. Schon zu Beginn der 1880er-Jahre musste es im Bürgerhospital ein stationäres Großgerät und einen mobilen Apparat gegeben haben. Ob und wann besondere Räumlichkeiten für die fest installierte Anlage vorhanden waren, ist mithilfe der Quellen nicht zweifelsfrei zu klären. Anders das St.-Josef-Krankenhaus in Ehrenbreitstein. Dort war 1893 ein eigener Desinfektionsraum erbaut worden.192

 

 Um die Jahrhundertwende muss die Ausbildung von Desinfektoren in besonderen Lehrgängen zu diesem Zeitpunkt aber schon zum festen Repertoire gehört haben. „Veranstalterin“ war die Königliche Regierung, die Bekanntmachungen über die neuen Kurse an die örtlichen Verwaltungen und die Landräte weiterleitete.193

 

Ein Grund für die steigende Aufmerksamkeit der Bezirksregierung war die Tatsache, dass im Laufe des Jahres 1904 im Regierungsbezirk wieder verstärkt Typhusfälle aufgetreten waren. Und Regierungspräsident August Freiherr von Hövel betrieb Ursachenforschung, wie folgende Dezember-Anweisung zeigt: „[…] Durch die neueren verbesserten bakteriologischen Untersuchungsmethoden ist es erwiesen, daß von den an Typhus erkrankten Personen eine procentual nicht unbedeutende Zahl auch nach beendigter Reconvalescenz reichlich Typhusbacillen ausscheidet. [...] Das häufige Vorhandensein solcher Personen erklärt in vielen Fällen das Vorkommen von ,Typhushäusern‘, das heißt Häusern, in denen immer wieder von Zeit zu Zeit Typhusfälle in der Weise aufgetreten, dass besonders die neu hinzuziehenden, z. B. Dienstboten, an Typhus erkranken, während die Bewohner durch die bereits überstandene Erkrankung geschützt sind. Zur Verringerung der der Allgemeinheit von Typhusträgern drohenden Gefahr empfiehlt es sich, überall im Bezirk einheitliche Maßregeln zu tragen. […]“194

 

Als die deutlichen Worte des Regierungspräsidenten fielen, arbeitete man in der preußischen Regierung schon längst an neuen Grundlagen. Eine Folge waren das Landesseuchengesetz vom 28. August 1905 und die entsprechenden Ausführungsbestimmungen vom 15. September 1906. Die neuen gesetzlichen Reglungen zwangen wiederum den Regierungspräsidenten, sich intensiv um die Ausbildung von Desinfektoren zu kümmern. Allerdings machte sich August von Hövel angesichts der großen Schwankungen in der Häufigkeit von Infektionskrankheiten keine Illusionen darüber, dass diese Desinfektoren eine dauerhafte berufliche Perspektive hatten. Die Gebühren für eine Desinfektion reichten für Desinfektoren nicht aus, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Hövel ging im August 1907 sogar so weit, für Desinfektoren ein Mindesteinkommen zu fordern. Das war nichts anderes als die Forderung, diese Fachkräfte fest einzustellen.195 Davon war man in Koblenz zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt.

 

Nach wie vor waren der oder die mobilen Desinfektionsapparate im Hospital untergebracht. Die Geräte wurden dann bei Bedarf in den Wohnungen eingesetzt, die von den sogenannten Hausepidemien betroffen waren. Über die tatsächlichen Einsätze wurde eine kleine Statistik geführt. So zählte man 1907 121 desinfizierte Koblenzer Wohnungen. Ein Jahr später waren es 167 Wohnungen, 1909 ging die Zahl der Desinfektionen leicht auf 157 zurück. Die Kosten für die Einsätze waren theoretisch von den Bewohnern der betroffenen Häuser oder Wohnungen zu tragen. Konnten diese das Geld nicht aufbringen, übernahm die Stadt die Kosten – und das tat sie sehr oft. Zahlten 1907 nur 66 Betroffene Gebühr, so stieg die Zahl 1908 auf 99. 1909 zahlten 89 Hausbewohner.196

 

Das Hygieneproblem im Hospital konnte dagegen nur mit größer dimensionierten Apparaturen bewältigt werden. Gerade die stationären Geräte mussten so groß sein, dass sie ein ganzes Krankenbett aufnehmen konnten. Aber erst im Dezember 1908 sprach die Hospitalkommission außerhalb der regulären Tagesordnung das Problem an. Der Kreisarzt hatte in der Sitzung darauf hingewiesen, dass das Desinfektionswesen in der Stadt völlig unzureichend war. Einen fest angestellten Desinfektor gab es zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. Es dauerte Tage, bis das angeforderte Personal ans Werk kam. Dieses ungeregelte Vorgehen machte natürlich auch Betrieb und Wartung der vorhandenen Anlage unnötig teuer. Und: Der Kreisarzt wies darauf hin, dass bereits mehrere kleine Städte in der näheren Umgebung von Koblenz dazu übergegangen seien, kommunale Desinfektoren zu beschäftigen.197

 

Dennoch scheute man in Koblenz die erforderlichen Investitionen. Zwar folgte im März 1909 die Gesundheitskommission den Empfehlungen der Hospitalkommission und forderte – unabhängig von einem Krankenhausneubau – eine Verlegung der Desinfektionsanstalt aus der Altstadt, doch favorisierte man zunächst einmal eine provisorische Lösung. So hätte man es gern gesehen, wenn der Desinfektor des Landkreises sich vorübergehend auch um Koblenz gekümmert hätte. In Bendorf und Vallendar war man da ein gutes Stück weiter. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten dort bereits Desinfektoren in städtischen Diensten.198

 

Auf der Suche nach einem geeigneten Standort für eine Desinfektionsanstalt wurde man dagegen relativ schnell fündig, weil das ehemalige Epidemienhaus in der Boninstraße (heute Behringstraße) für diesen Zweck besonders geeignet erschien. 1882 zur Aufnahme von Pockenkranken errichtet, war es zehn Jahre später angesichts der besorgniserregenden Meldungen aus Hamburg zur Aufnahme von 50 bis 60 Cholerakranken vorbereitet worden.199 Später diente das Gebäude unterschiedlichen Zwecken. So war es 1899 Obdachlosenasyl des Katholischen Männervereins. Noch Anfang 1908 wurde das Fachwerkgebäude von der Stadt zur Unterbringung von Obdachlosen genutzt. Als sich definitiv herausstellte, dass eine wirksame Desinfektion der Wäsche aus dem Krankenhausbetrieb im Bürgerhospital schon allein aus Platzgründen nicht möglich war, beschlossen die Stadtverordneten, Nebenräume der früheren Pockenstation zum Aufbau einer Desinfektionsanstalt zu nutzen.

 

Nach den grundsätzlichen Beschlüssen der Jahre 1908 und 1909 ging der Umzug vom Bürgerhospital in die Boninstraße schnell und geräuschlos über die Bühne. Die Technik hat man in diesem Zusammenhang wohl nicht erneuert, der alte Apparat wurde einfach am neuen Standort aufgestellt. Immerhin rang man sich schließlich dazu durch, einen hauptamtlichen Desinfektor einzustellen. Der Hospital-Ausschuss machte im August 1910 grundsätzlich den Weg für die Einstellung frei.200 Darüber hinaus wurde eine neue Gebührenordnung auf den Weg gebracht, die Desinfektionen mit Formalin, ohne Formalin und mit Dampf unterschied. Die dabei verbrauchten Chemikalien wurden zum Selbstkostenpreis berechnet.201

 

Die Desinfektorenstelle erhielt schließlich Heinrich Schmidt. Der neue Mann musste sich mit einer Reihe von Provisorien abfinden. So war der mobile Apparat weiter im Bürgerhospital untergebracht. Er musste nach Bedarf mit einem Handwagen an den Einsatzort gebracht werden. Seinen täglichen Einsatzplan erhielt er von der Hospitalverwaltung, die wiederum auf entsprechende Meldungen der Polizeidirektion reagierte.202

 

Auch wenn der Oberbürgermeister das damalige Stadtbauamt schon Anfang November damit beauftragte, das „Dampfdesinfektionsgerät im Epidemienhaus“ überprüfen zu lassen203, stellte die Bezirksregierung in ihrer Verfügung vom 22. Dezember 1911 fest, dass „[…] der am hiesigen Seuchenhause aufgestellte Dampfinfektionsapparat zu Entseuchungszwecken völlig ungeeignet […]“ war. Die Regierung betonte, dass mit „[…] der Errichtung einer besonderen Entseuchungsanstalt […] unter keinen Umständen gewartet werden [kann], bis die Frage des Hospitalneubaus entschieden ist. […]“204

 

Im Frühsommer 1911 befassten sich schließlich die Stadtverordneten mit der Sache. In der Sitzung vom 28. Juni erinnerte Oberbürgermeister Karl Ortmann daran, dass der bisherige Desinfektionsapparat im Epidemienhaus nunmehr 25 Jahre alt sei und den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr entspreche. Der Vorsitzende machte deutlich, dass man bislang mit Rücksicht auf den beabsichtigten Hospitalneubau mit der Anschaffung eines neuen Apparates gewartet habe, die Sache aber nun nicht mehr verschieben könne. Die Stadtverordneten folgten dem Beschluss der Hospitalkommission. Diese hatte sich am 26. Juni 1911 für die Anschaffung eines neuen Apparates entschieden. Dieser sollte vorübergehend ebenfalls im Epidemienhaus Boninstraße aufgestellt werden, das zu diesem Zweck erweitert werden musste.205

 

Alle Beteiligten waren sich darüber im Klaren, dass die neue Anlage so groß sein musste, dass es problemlos möglich war, ein ganzes Krankenbett zu desinfizieren, ohne dass es auseinandergebaut werden musste. Entsprechend wurde auch die Ausschreibung gestaltet.206 Am Ende entschied sich die Stadt für eine Anlage, die mit Formalin betrieben wurde. Die neue Apparatur wurde schließlich Ende 1911 von der Firma F. & M. Lautenschläger GmbH mit Hauptsitz in Berlin-Reinickendorf zum Preis von 5328 Mark geliefert.207 Im Mai 1912 wurden die Mitglieder der Hospitalkommission darüber informiert, dass der neue Desinfektionsapparat in der Boninstraße fertiggestellt sei.208

 

Trotz der erheblichen Investitionen waren auch nach dem Aufbau des neuen Desinfektionsapparates die Probleme längst nicht gelöst. So bemängelte die Bezirksregierung im Februar 1913, dass der Betrieb in der Desinfektionanstalt alles andere als optimal lief, wie folgender Brief des Regierungspräsidenten Friedrich von Scherenberg (1911–1917) zeigt: „[…] Angestellte Ermittelungen haben ergeben, dass der von der Stadtverwaltung mit großem Kostenaufwand beschaffte Dampfdesinfektionsapparat bis zum Schlusse des Jahres 1912 nur zweimal benutzt worden war. Die gesetzlich vorgeschriebene Desinfektion von nicht waschbaren Kleidungsstücken, Federbetten, wollenen Decken, Matratzen usw. ist also in der großen Zahl der vorgekommenen übertragbaren Krankheiten fast ausnahmslos nicht im Desinfektionsapparat erfolgt. Wenn auch in den Desinfektionsanweisungen der allgemeinen Ausführungsbestimmungen sowie in den Einzelanweisungen zum Landesseuchengesetz die Desinfektion jener Gegenstände in Dampfapparaten oder mittels Formalin angeordnet ist, so kommt doch letztere nur da in Betracht, wo ein Dampfdesinfektionsapparat nicht vorhanden ist.

 

Die Wirksamkeit der Formaldehyd-Desinfektion kommt nach feststehenden wissenschaftlichen Erfahrungstatsachen derjenigen der Dampfdesinfektion nicht gleich, und in dem mitgeteilten Erlass des Herrn Ministers des Inneren vom 22. März 1912 ist ausdrücklich hingewiesen, dass zur Desinfektion bei Tuberkulose die Formalindesinfektion nicht ausreicht, vielmehr die Dampfdesinfektion zur Anwendung zu ziehen ist. Ich ersuche nunmehr mit Strenge darauf zu wirken, dass bei den vorkommenden übertragbaren Krankheiten insbesondere bei Typhus, Ruhr, Diphtherie, Scharlach, Tuberkulose die Desinfektion der obengenannten Gegenstände ausschließlich im Dampfdesinfektionsapparat erfolgt. […]“209

 

Irreführend ist, dass der Koblenzer Regierungspräsident von einem mit Dampf betriebenen Gerät spricht und sich somit der Verdacht einer schlampigen Arbeitweise in der Desinfektionsanstalt Boninstraße aufdrängt. Andere Verhältnisse spiegelt ein Bericht des Kreisarztes vor der städtischen Gesundheitskommission. Er bemängelte, „[…] dass der kostspielige Formalindesinfektor für den Regelfall unzweckmäßig erscheine, auch die Art der Benutzung der städtischen Desinfektionsräume zu wünschen übrig lasse. […]“210 Darüber hinaus forderte der Kreisarzt, einen weiteren Desinfektor einzustellen und zusätzlich eine Desinfektionskolonne für den Epidemiefall aufzustellen.

 

Aus den weiteren Unterlagen geht hervor, dass schon mit dem Gerät der Firma Lautenschläger die Dampfdesinfektion möglich war. Dennoch fasste man weitere Umbauten und wohl auch eine Umrüstung oder Modernisierung des Apparates ins Auge. Das zeigten auch die neuen Ausschreibungen, auf die sich auch die Weimarer Aktiengesellschaft Apparatebauanstalt und Metallwerke meldete. Das Untenehmen hatte im Mai 1913 das Koblenzer Garnisonslazarett mit einem Gerät beliefert, in dem sowohl mit Dampf als auch mit Formalin gearbeitet werden konnte. Dieses Gerät hatte eine Länge von 2,3 Metern, eine Höhe von 2,0 Metern und eine Breite von 1,3 Metern. Es eignete sich somit zur Desinfektion kompletter Betten.211

 

Ein konkurrierendes Verfahren kam ohne Wasserdampf und Formalin aus. So empfahl sich die Maschinenfabrik Arthur Vondran in Halle an der Saale mit einem Apparat, der materialschonend ausschließlich mit „trockener, heißer Luft“ arbeitete.212 Am Ende entschied sich die Stadt gegen eine Neuanschaffung und für einen Umbau der bestehenden Anstalt. Dazu gehörten vor allem die Vergrößerung des Maschinenraumes, die Trennung von Desinfektions- und Maschinenraum sowie die Errichtung eines Trockenschuppens und zweier Schutzdächer.213 Die Erweitungsmaßnahmen waren auch deshalb erforderlich, weil die beiden Desinfektionswagen der Stadt nur provisorisch bei der Spedition Harnischfeger in der Neustadt untergebracht waren, die dafür eine Pauschale von 100 Mark jährlich erhielt.214

 

Schließlich erkannte man auch bei der Stadt, dass ein Desinfektor allein die umfassenden Arbeiten nicht bewältigen konnte. Man entschied sich dafür, eine zweite Stelle zu schaffen, die mit dem Krankenwärter Rams besetzt werden sollte.215 Der erste Desinfektor, Heinrich Schmidt, mietete 1913 sogar den Fachwerkbau in der Boninstraße an. Er musste das Fachwerkgebäude aber bereits 1915 wieder räumen, weil das Gebäude zur Unterbringung von Soldaten benötigt wurde. Vorübergehend wurde die vorhandene Desinfektionsanlage vom Militär genutzt, weil die im Moselweißer Garnisonslazarett vorhandenen Kapazitäten nicht mehr ausreichten.216

 

Auch nach dem Ersten Weltkrieg hatte die ehemalige Pockenstation eine wichtige Funktion: Sie wurde von der US-Besatzung vorübergehend wieder als Epidemienhaus genutzt, aber bereits 1921 wieder an die Stadt zurückgegeben.217 Fortan wurde es wieder als Obdachlosenasyl benutzt, da der geplante Umzug des Hospitals nach Moselweiß eine Desinfektionsanstalt nach alter Prägung überflüssig machte.218

 

In der neuen Krankenhauswäscherei sollten auch die notwendigen technischen Geräte für eine gründliche Desinfizierung enthalten sein. Und die war seit den beiden letzten Kriegsjahren wichtiger denn je. Wie die Statistiken aus jener Zeit zeigen, war das Tuberkulose-Problem noch längst nicht gelöst. Im Gegenteil: Todesfälle waren an der Tagesordnung, und auch die anderen Infektionskrankheiten wie Typhus und Diphtherie konnten noch lange nicht zu den Akten gelegt werden. So weist die Statistik für das Jahr 1917 insgesamt 1252 Todesfälle auf (743 Männer und 509 Frauen). Der Anteil der Menschen, die an Lungentuberkulose gestorben waren, lag mit 125 (85 Männer und 40 Frauen) bei knapp zehn Prozent. Weitere 17 Personen (sieben Männer und zehn Frauen) waren an der „Tuberkulose anderer Organe“ gestorben. Bei weiteren sieben Frauen wurde Typhus als Todesursache festgestellt. Schließlich waren auch noch 47 Menschen (23 Männer und 24 Frauen) an den Folgen von „Diphtherie und Krupp“ gestorben.219

 

1.9 Prostitution und Krankheit

 

Als Garnisons- und Festungsstadt war Koblenz mit der Prostitution besonders stark konfrontiert. Hinzu kommt, dass „Frauenhäuser“ in der Stadt eine lange Tradition haben, die weit in das Mittelalter zurückreichte. Beim Kampf gegen das „Gewerbe“ ging es nicht nur um moralische, sondern vor allem um gesundheitliche Argumente. Die Zahl der geschlechtskranken Frauen in der Stadt war nämlich nicht zu unterschätzen. Nicht umsonst hatte die Obrigkeit Angst davor, dass die Krankenstände der Soldaten in die Höhe schnellten. Und so versuchte man immer wieder, das „Gewerbe“ einzudämmen. Freilich gab es keine dauerhaften Erfolge. Ganz im Gegenteil: Die Provinzhauptstadt war nicht nur ein Mittelpunkt für Beamte und Soldaten, sondern eben auch für Dirnen.220

 

Während man die Bordelle zur Zeit der französischen Besatzung als notwendiges Übel betrachtete und sogar eine „Hurenheilungskasse“ einrichtete, in die sowohl Bordellbetreiber als Prostituierte einzahlen mussten, sah man in der preußischen Verwaltung die Dinge anders. 1816 und 1843 wurden die Freudenhäuser verboten. Ergebnis: Die Obrigkeit verlor vollends die Kontrolle über die Huren, die nun ihr Gewerbe im Verborgenen betrieben. Die Polizeibehörde war machtlos.221 Damit hatten die preußischen Aufsichtsbehörden genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich bezweckt hatten. Es ging nämlich nicht nur um die Eindämmung der „käuflichen Liebe“, sondern vor allem um eine vernünftige medizinische Versorgung geschlechtskranker Frauen. Schließlich beschränkte man sich darauf, das „Umhertreiben“ auf den Straßen zu unterbinden. Auf die scharfe Kontrolle der Privatbordelle in der Stadt wurde verzichtet.222

 

Wie die Franzosen drängten auch die Preußen darauf, dass die Huren im Falle einer Krankheit auch richtig behandelt wurden. Polizeidirektor Johann Heinrich Weber hatte bereits 1816 entsprechenden Druck auf Stadt- und Hospitalverwaltung ausgeübt. Und das mit gutem Grund: Hatte er doch selbst eine erkrankte Dienstmagd zur Behandlung ins Bürgerhospital geschickt, wo sie allerdings abgewiesen wurde. Die Frau stammte nicht aus Koblenz und man sah seit der Abschaffung der „offiziellen“ Bordelle keine Möglichkeit, sie zu behandeln. Zu diesem Zeitpunkt gab es ja noch keine rechtliche Handhabe, was sich erst mit dem Gesetz über den Unterstützungwohnsitz 1870 änderte. Die Frau wurde schließlich ins Arresthaus223 gebracht, das über eine eigene Krankenstation verfügte.

 

Man bedenke: Seit dem Verbot von 1816 wurde Prostitution bestraft – und zwar mit einer achttägigen Gefängnis- oder Arbeitshausstrafe und einer Geldstrafe von fünf Reichstalern. Die „Alternative“: bis zu 20 Peitschenhiebe. Außerdem konnten die meist auswärtigen Prostitutierten der Stadt verwiesen werden. Diese wiederum unterliefen das Verbot, indem sie ankündigten, ihren Freier heiraten zu wollen.224 Bereits 1818 war klar, dass die Maßnahmen der Behörden nicht dazu geeignet waren, die venerischen Krankheiten einzudämmen. So meldete im März jenen Jahres der Kommandeur des  9. Husarenregiments, Oberst von Hellwig, dass der Krankenstand unter den Husaren nicht gesunken sei. Nach wie vor mussten zahlreiche geschlechtskranke Soldaten in das Garnisonslazarett225 eingeliefert werden.

 

Oberbürgermeister Abundius Maehler schlug schließlich eine Reihe von Gegenmaßnahmen vor, wie sie bereits in französischer Zeit bestanden. Bei der Bezirksregierung sah man das ganz ähnlich. Die Folge: Das Reglement vom 21. Juni 1818, mit dem eine Meldepflicht für Prostituierte und ärztliche Pflichtuntersuchungen in einem Turnus von acht Tagen eingeführt wurde. Darüber hinaus verbot man die Straßenprostitution. Bei einem Verstoß gegen die Regelungen drohten Gefängnisstrafen.226

 

In der Praxis war von einer verschärften Gangart nicht viel zu spüren. Zwar verweigerten die Behörden immer wieder Anträge zur Eröffnung von Bordellbetrieben, doch war der Einfluss der örtlichen Polizei außerhalb der Festungsmauern zu Ende. Und so hatten die Prostituierten immer wieder ein „Rückzugsgebiet“, um bei der nächsten günstigen Gelegenheit wieder in die Stadt zu kommen. Daran änderte auch das neue preußische Strafgesetzbuch vom 1. Juli 1851 nichts, das Prostitution generell verbot und unter Strafe stellte. Die überforderten Behörden duldeten weiterhin Bordelle, solange sich diese Betriebe nicht in exponierter Lage befanden. Die häufigen Beschwerden Koblenzer Bürger über entsprechende Etablissements belegen jedoch, dass auch diese eingeschränkte Duldung in der Praxis nicht gut funktionierte. Dennoch bildeten sich im Laufe der Zeit in der Altstadt bestimmte Schwerpunkte für das „Gewerbe“. Dies waren vor allem die kleinen Mauerhäuschen entlang der noch erhaltenen Abschnitte der mittelalterlichen Stadtmauer und die westlichen Randbereiche der Altstadt.

 

Berüchtigt waren auch die Nebengassen der Kastorstraße. Wie aussichtslos die Bemühungen waren, die Prostitution in der Stadt einzudämmen, zeigt die schon fast resignierende Bilanz des Polizeidirektors. Raitz von Frentz räumte ein, dass man trotz der Bestimmungen des neuen Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, die Prostitution generell unter Strafe stellten, ebendiese nicht wirkungsvoll bekämpfen konnte. Er begründete dies 1874 mit der Tatsache, dass auf 24.528 Einwohner in Koblenz eine starke Garnison von 6039 „Miltairpersonen“ kam. Allein in Koblenz lebten rund 3388 Soldaten, weitere 1993 in Ehrenbreitstein. Und schließlich waren auch in Neuendorf 658 Angehörige des Militärs stationiert.227

 

Die daraus resultierenden Probleme waren natürlich keine Koblenzer Spezialität. Das spiegelte sich auch in der Novelle des Strafgesetzbuches vom 26. Februar 1876 wider, das unter bestimmten Umständen die Duldung der Prostitution auch offiziell möglich machte. In § 361 Absatz 6 hieß es wörtlich: „Mit Haft wird bestraft eine Weibsperson, welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt ist, wenn sie den in dieser Hinsicht zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen Vorschriften zuwiderhandelt, oder welche ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßige Unzucht betreibt.“228

 

Immer wieder wurden Frauen aufgegriffen, die von außerhalb in die Stadt kamen, um ihrem „Gewerbe“ nachzugehen, was zunehmend zu einem Problem für die Behörden wurde. Schon 1852 klagte die Bezirksregierung darüber, dass die Syphilis229 in Koblenz stärker als bisher bekannt in der Stadt grassierte. Die Kommune wurde verpflichtet, die ärztliche Kontrolle der Prostituierten auf eigene Kosten wieder aufzunehmen und zu verstärken. Die Stadt wehrte sich gegen die zusätzliche Belastung und protestierte in Berlin – vergebens. Die wöchentliche Untersuchung der Prostituierten erfolgte schließlich im Hohenfelder Haus (Löhrstraße 30), das seit 1855 als Polizeigebäude diente. Ab 1861 war der Kreischirurg für diese Untersuchungen zuständig.230 Stellte sich bei den Untersuchungen heraus, dass Frauen erkrankt waren, konnten diese zwangsweise ins Bürgerhospital eingewiesen werden. Wie hoch dort der Anteil der Geschlechtskranken im Verhältnis zum Gesamtkrankenstand war, haben Ulrike Grundmann und Petra Weiß für die Jahre 1826 bis 1902 ermittelt. Demnach wurde die höchste Quote von 6,7 Prozent im Jahr 1833 errreicht. Der Durchschnitt lag bei knapp 3,9 Prozent.231

 

Für die Behandlung der Geschlechtskranken wurden im Bürgerhospital bestimmte Zimmer reserviert. Dabei wurden die Personen mit Krätze und Geschlechtskrankheiten zusammengelegt.232 Das war auf Dauer natürlich ein unhaltbarer Zustand. Deswegen bemühte man sich um eine zufriedenstellende Lösung. Man dachte daran, die Geschlechtskranken in einem besonderen Gebäude zu isolieren. Das sollte im Deutschherrenhaus erfolgen, das jedoch weiterhin als Staatsarchiv genutzt wurde. Geschlechtskranke wurden im Kloster Maria Trost behandelt.233

 

 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschloss man sich, die geschlechtskranken Frauen in einem Nebengebäude auf dem Hospitalgelände unterzubringen. Insgesamt gesehen dürfte die Dunkelziffer bei den Geschlechtskrankheiten sehr hoch gewesen sein. Die behördlichen Maßnahmen griffen nämlich nur bei den ortsansässigen Frauen. Die meisten Prostituierten kamen jedoch von außerhalb in die Stadt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Zwangsuntersuchungen nur relativ wenige Frauen betrafen. Wurde 1884 mit 56 Fällen ein Höchststand erreicht, unterzogen sich drei Jahre später nur noch zehn Frauen der Untersuchung.

 

Die Zahlen pendelten sich auf einem niedrigen Niveau ein. 1890 gingen nur 16 Frauen zur Untersuchung, ein Jahr später waren es immerhin 28.234 Das lag sicherlich auch daran, dass nur die wenigsten Betroffenen wirklich als Prostituierte „überführt“ werden konnten. Die Grenzen zwischen einem ausschweifenden Lebenswandel und dem „Gewerbe“ waren fließend. Und während des Ersten Weltkrieges und dem Beginn der Besatzungszeit verschwammen die Grenzen angesichts der großen wirtschaftlichen Not weiter. Auf jeden Fall hatte man im Hospital Probleme, die Behandlungskosten in den Griff zu bekommen, weil sowohl die Landesversicherungsanstalt für die Rheinprovinz als auch die Allgemeine Ortskrankenkasse eine Kostenbeteiligung verweigerten. Dies geht auf jeden Fall aus dem Schriftverkehr zwischen dem Hospitalinspektor Schaefer und den Versicherungsträgern hervor, der in die Monate Januar und Februar 1919 datiert ist. Das Argument der Kassen: Es handele sich um eine gemäß den örtlichen Polizeistatuten vorgeschriebene Zwangsbehandlung, deren Kosten die Kommunen zu übernehmen hätten.235

 

 Auch spätere Berichte zeigen, dass sich Prostitution und Geschlechtskrankheiten in Koblenz auf einem hohen Niveau eingependelt hatten. Diese Feststellung gilt auch für die Zeit, als Koblenz vorübergehend seine einst herausragende Rolle als deutsche Garnisonsstadt verlor. Aus wirtschaftlicher Not waren viele Frauen gezwungen, sich Amerikanern und Franzosen „anzubieten“. Und als sich die Verhältnisse in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre besserten, waren erstaunlich viele Huren in der Stadt anzutreffen. Als Zentrum für den ganzen Mittelrhein war die Stadt auch nach dem Abzug der französischen Besatzung (1929/30) ein beliebtes Ziel vergnügungssüchtiger Männer. Das zeigen die Zustände in den kleinen Häuschen an der Wasserturmsmauer. Im Verwaltungsbericht 1932 heißt es: „Die Überwachung der Dirnen auf der Wasserturmsmauer erfolgte durch regelmäßige (wöchentliche, 14-tägige oder monatliche) ärztliche Untersuchung auf deren eigene Kosten. Zum Zwecke der Gewerbsunzucht wohnten auf der Wasserturmsmauer dauernd 35 Personen. Vorübergehend übten außerdem dort gewerbsmäßig Unzucht aus 80 Personen, so dass insgesamt 115 Personen gesundheitlich überwacht wurden. Es ist also ein starkes Fluktuieren der Bewohnerinnen festzustellen, was besondere Aufmerksamkeit erfordert.“236

 

Tatsächlich dürfte die Zahl der Prostituierten in der Stadt noch wesentlich größer gewesen sein, da sich zu den gemeldeten Dirnen weitere Frauen aus der Region gesellten, die bei ihnen zur Untermiete wohnten. So viel steht fest: Im mittleren Abschnitt der Wasserturmsmauer muss die Dominanz der Prostituierten so groß geworden sein, dass man sich in den Kriegsjahren dazu entschloss, den Durchgang mit einem bewachten Bretterverschlag zu „regulieren“. Dies sollte vor allem Soldaten darin hindern, einfach durch die Gasse zu flanieren, die aus der Richtung Altlöhrtor/Magazinstraße zur Balduinstraße führte. Wer zu den Prostituierten wollte, musste das deutlich kundtun. Schon allein diese Tatsache war für manchen Soldaten Abschreckung genug. Die Sperre bestand allerdings nicht lange, weil die Gebäude an der Wasserturmsmauer während der Luftangriffe von 1944 zerstört wurden. Viele Prostituierte, die im Weinkeller des benachbarten Casinos Schutz gesucht hatten, kamen bei einem alliierten Luftangriff ums Leben.237

 

Venerische Krankheiten hatten sich nicht nur in Koblenz zu einer regelrechten Plage entwickelt. Der Gesetzgeber reagierte. Mit dem am 1. Oktober 1927 in Kraft getretenen Reichsgesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten wurden die Kommunen als Hauptträger der öffentlichen Gesundheitsfürsorge noch stärker in die Pflicht genommen. Das Gesetz markierte den Anfang kommunaler Gesundheitsbehörden als Vorläufer der „zweiten Generation“ von Gesundheitsämtern, die in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre folgen sollten. In Koblenz war die neu eingerichtete Gesundheitsbehörde eine Abteilung des Wohlfahrtsamtes. Dazu gehörte eine Beratungsstelle, die im städtischen Bürgerhospital eingerichtet wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt längst ein großer Teil des Krankenhausbetriebes in den Kemperhof nach Moselweiß verlagert worden war. Die Hauptaufgabe der neuen Gesundheitsabteilung war es, alle Maßnahmen zu ergreifen, die der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aller Art dienten. Obwohl die frühere Sittenpolizei nach Inkrafttreten des Reichsgesetzes aufgehoben wurde, hatte die Gesundheitsbehörde dennoch Druckmittel. So leitete sie bereits 1927 in 27 Fällen Zwangsbehandlungen ein. Außerdem gab es Zwangsuntersuchungen, die nach der Einrichtung des neuen Gesundheitsamtes im Kurfürstlichen Schloss erfolgten.238

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