Stadterweiterung und Entsorgung
an Rhein und Mosel 2
4. Der städtische Fuhrpark
Mit dem traditionellen System, die kommunalen Entsorgungsverpflichtungen privatwirtschaftlich zu lösen, war die Stadtverwaltung sehr unzufrieden, zumal es keine Kostentransparenz gab. Darüber hinaus belegen die Akten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer wieder, dass die Fuhrleute die Abfuhr des „Straßenkehrichts“ mehr schlecht als recht erledigten. Umgekehrt machte die örtliche Fuhrherren-Vereinigung immer wieder Druck. So beschwerte sie sich darüber, dass die Stadt Aufträge unter der Hand an Billiganbieter vergab.85
Oft musste seitens der Stadt wesentlich mehr gezahlt werden, als eigentlich vereinbart war. Das zeigte zum Beispiel auch die Rechnungsprüfung vom Mai 1918. Das Rechnungsamt bemängelte, dass der Fuhrunternehmer Jäckel für seine Leistungen im Jahr 1916 mehr Geld erhalten hatte, als ihm vertragsmäßig zustand. Doch die Sache war rechtmäßig. Entsprechende Belege waren im Tiefbauamt ausgestellt und an die Stadtkasse zur Auszahlung weitergegeben worden.86
Das Beispiel zeigt: Art und Umfang privater Leistungen standen nicht umsonst immer wieder auf dem Prüfstand. Schon allein aus Kostengründen entschied man sich ausgerechnet im extrem schweren Kriegsjahr 1917 zur Gründung eines eigenen Fuhrparks. Das Personal rekrutierte man aus 20 kriegsuntauglichen Fuhrleuten und Arbeitern. 16 Pferde standen zur Verfügung, um die Kehrichtwagen zu bewegen.87 Finanziert wurde das Ganze nach dem kommunalen Abgabengesetz über Abfuhrgebühren. Der neue Fuhrpark und seine Mitarbeiter waren allerdings nicht so leistungsfähig, dass man ganz auf private Fuhrunternehmer verzichten konnte. Diese übernahmen zum Beispiel die Müllabfuhr in den zahlreichen Hotels der Stadt.
Doch die Schwierigkeiten ließen nicht lange auf sich warten, denn auch die Privatunternehmen kamen mit den Müllbergen nicht zurecht, die die amerikanische Besatzung seit Kriegsende hinterließ. Die hatte nämlich eine Reihe von Hotels für ihre Zwecke beansprucht. Die Stadtverwaltung versuchte, die Amerikaner zu disziplinieren, indem sie die Müllabfuhr an den Hotels zeitweise ganz einstellte. Der Protest der Hoteleigentümer ließ nicht lange auf sich warten, die völlig zu Recht darauf verwiesen, dass sie pünktlich ihre Abfuhrgebühren bezahlten. Schließlich musste die Stadtverwaltung auf Druck der Amerikaner ihren „passiven Müllwiderstand“ aufgeben.88
Der neue kommunale Fuhrpark, zu dem auch 18 Gespanne zur Müllabfuhr gehörten, wurde zunächst auf dem Gebiet des Schlachthofes untergebracht und blieb bis Ende 1922 ein Regiebetrieb des städtischen Tiefbauamtes. Bereits ein Jahr nach seiner Gründung wurde der Fuhrpark auf ein vom Militärfiskus gepachtetes Gelände am Kaiserin-Augusta-Ring (heute Moselring) verlegt. Dort konnte die Stadt Stallungen, Schuppen und Reitbahnen des früheren Feldartillerie-Regiments 23 umbauen und nutzen.89
Zu Beginn des Jahres 1923 wurde der Fuhrpark vom Tiefbauamt unabhängig und zu einer eigenen städtischen Dienststelle, die unter Leitung eines Fuhrparkdirektors stand. Innerhalb von zwei Jahren wuchs die neue Einrichtung beachtlich. In einem weiteren Schritt wurde 1938 auch der Bereich Stadtentwässerung aus dem Tiefbauamt herausgelöst und in ein eigenes Amt umgewandelt.90 Anfang März 1940 folgten die Abteilungen Straßenreinigung und Müllabfuhr, die das neue Amt für Straßenreinigung und Müllbeseitigung bildeten.91
1925 gehörten zum Bestand des städtischen Fuhrparks 30 schwere Arbeitspferde, zwei Ochsen, zwei Krupp’sche Auto-Müllwagen, zwei Auto-Straßensprengwagen, zwei Auto-Straßenkehrmaschinen, eine Auto-Straßenschrubbermaschine und ein kleiner Personenkraftwagen. Hinzu kamen die dazugehörigen Werkstätten, darunter eine für die Reparatur von Autos sowie Schmiede, Schlosserei, Stellmacherei, Sattlerei und Anstreicherei. Der Personalstamm war auf 54 „vollarbeitsfähige“ Arbeiter und vier Bürobeamte gewachsen.92 Zu diesem Zeitpunkt hatte die gesamte Stadtverwaltung eine Personalstärke von 634 Mitarbeitern.93
Der Fuhrpark stellte die Wagen für alle Aufgaben der Stadtreinigung und Entsorgung. Er stellte aber auch anderen städtischen Dienststellen Pferde und Fahrzeuge zur Verfügung. Es lag in der Natur der Sache, dass Straßenreinigungs- und Müllabfuhranstalt dem Fuhrpark angegliedert waren und von der Fuhrparkdirektion verwaltet wurden. Interessant sind die Zahlen, die Direktor Möckel für das Jahr 1925 zusammentrug. Demnach wurden damals für die Reinigung der Koblenzer Straßen zwei Krupp’sche Auto-Straßenkehrmaschinen und eine Benz’sche Straßenwaschmaschine eingesetzt. Insgesamt mussten städtische Flächen in einer Größenordnung von 500.000 Quadratmetern gereinigt werden. Neben den Maschinen waren 59 Arbeiter im Einsatz, um die Aufgaben zu bewältigen. Darüber hinaus waren täglich drei Gespanne erforderlich, um den Straßenkehricht abzufahren. Jedes Gespann bewältigte drei Fuhren.94
An die städtische Müllabfuhranstalt waren 1925 etwa 15.000 Koblenzer Haushalte angeschlossen. Damals wurden für die Abfuhr des Mülls noch Gespanne eingesetzt. Täglich waren 20 dieser Gespanne unterwegs, um den Müll abzufahren. Die Verwaltung rechnete seinerzeit aus, dass damals jährlich rund 12.000 Fuhren erforderlich waren. Das gesamte Aufkommen an Hausmüll in der Stadt betrug rund 36.000 Kubikmeter jährlich.95 Möckel gab allerdings nicht an, wohin der Hausmüll gebracht wurde. Dem systematischen Deponieren außerhalb der Stadt scheint man damals noch geringe Bedeutung beigemessen zu haben. Man begnügte sich mit Provisorien. Das zeigen auch die zahlreichen in den Akten dokumentierten Beschwerden über „wilde“ Deponien, die nicht nur von privaten Fuhrunternehmen, sondern eben auch von der Stadt angehäuft wurden. Exemplarisch sei hier die Lützeler Firma Gebrüder Stumm genannt, die sich im Juli 1919 darüber beschwerte, dass „städtische Fuhrleute“ Müll auf dem unternehmenseigenen Gelände abluden.96
Allerdings war dem Leiter des Fuhrparks sehr wohl bewusst, „ daß es wohl kaum ein Gebiet gibt, das den Städten so große Schwierigkeiten bereitet, wie die Frage der Sauberhaltung der Straßen und die Müllabfuhr.“ Möckel schrieb weiter: „Es ist dies eine Aufgabe, die der Erhaltung und Förderung der Volksgesundheit dient und somit eine der vornehmsten Pflichten der Stadtverwaltungen und der von diesen mit der Leitung dieser Betriebe Beauftragten, tatkräftig auf dem Gebiete der Städtereinigung weiterzuarbeiten, in dem Bewußtsein, daß hierdurch nicht nur wertvolle Kulturarbeit geleistet, sondern auch wesentlich zur Gesundung der Volkswirtschaft beigetragen wird.“97
Schließlich kamen zum städtischen Fuhrpark auch Fahrzeuge für die Reinigung der Kanäle dazu, die in den Kriegsjahren und in der ersten Zeit der Besatzung stark vernachlässigt worden war. So entschlossen sich die Stadtverordneten im Januar 1929 zum Kauf eines „Motorschlammwagens“. Das Fahrzeug war bereits Ende 1927 und Anfang 1928 in den Probebetrieb genommen worden. Das Chassis lieferte die Deutsche Last-Automobilfabrik Ratingen (DAAG), während die Aufbauten das Koblenzer Unternehmen Gebrüder Gerhard übernahm. Bereits ein Jahr zuvor hatte das Tiefbauamt das vom Mannheimer Apparatebauer Max Kirchner hergestellte Reinigungsgerät „Iltis“ in Betrieb genommen. Das Geld für die Investitionen stammte aus dem „Rücklagefonds der Kanalisation“.98
Die Reinigung der Kanäle erfolgte zuerst von Hand.99 Hierzu musste eine Verbindung von Schacht zu Schacht hergestellt werden. Bei ausreichender Wasserführung wurde eine Kordel mit einem Korken in die Haltung gebracht. Der Korken schwamm dann bis zum folgenden Schacht. So konnte man das Seil nachziehen und mit einer Seilwinde verbinden. Man war dann in der Lage, die Reinigungsgeräte wie Eimer, Schaber und Bürste einzusetzen und die Ablagerungen zum Schacht zu ziehen. Von dort wurden sie mit einem Eimer hochgeführt und in einen bereitstehenden Wagen geladen und abtransportiert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte man Motorwinden ein. Waren die Ablagerungen zu stark und die Wasserführung zu gering, musste die Verbindung mit verschraubbaren Bambusstäben und später mit Eisenstangen hergestellt werden. Große Kanäle wurden zur Reinigung begangen. Erst in den 1950er-Jahren wurde der Betrieb nach und nach auf maschinelle Reinigung umgestellt. Zunächst wurde ein Unimog mit einer aufgebauten Motorwinde beschafft. So konnte man auch die Mannschaftswagen schnell zum Einsatzort bringen und die Kastenwagen mit den Ablagerungen abfahren. Später wurden Schlammsaugwagen und dann Hochdruckspüler angeschafft.
Die auch noch heute eingesetzten Hochdruckspüler sind mit einer Hochdruckpumpe ausgestattet und haben einen Tank für mehrere Kubikmeter Wasser. Unter hohem Druck (mehr als 100 bar) wird dann ein Schlauch mit einer entsprechenden Düse in den Kanal eingeführt, der sich dann durch den hohen Druck in die Haltung hineinzieht und den Schmutz und die Ablagerungen aufwirbelt. Der Schlauch wird dann mit einer im Fahrzeug befindlichen Schlauchwinde zurückgezogen. Die unter hohem Druck aus der Düse austretenden Wassermassen ziehen dann die gelösten Ablagerungen in den Schacht. Dort werden sie von einem Schlammsaugwagen abgesaugt. Hierfür ist eine Vakuumpumpe installiert, die einen Unterdruck erzeugt. Theoretisch kann auf diese Weise Schlamm bis zu einer Tiefe von zehn Metern angesaugt werden. Durch Reibungsverluste beträgt die tatsächliche Förderhöhe rund neun Meter. In der Regel ist dies in der Praxis ausreichend. Bei der Stadtentwässerung sind Schlammsaugwagen, Hochdruckspüler und kombinierte Schlammsaug- und Hochdruckspüler sowie ein Kanalfernauge im Einsatz.
Die Arbeit in Abwasseranlagen ist mit vielerlei Gefahren verbunden. Deshalb muss das Personal entsprechend ausgerüstet und ausgebildet sein. Mittlerweile ist der Beruf eines Entsorgers für Abwasser ein anerkannter Ausbildungsberuf mit einer dreijährigen Ausbildungszeit. Auch an die Hygiene werden besondere Anforderungen gestellt. Der Kanal darf nur betreten werden, wenn vorher untersucht wurde, ob keine explosiven oder giftigen Stoffe in der Umluft sind. Die Person, die einsteigt, muss gesichert sein und Hilfskräfte müssen über Tage bereitstehen. Selbstretter und schweres Atemschutzgerät müssen ebenso wie Schutzkleidung vorgehalten werden. Die Reinigung der Ausrüstung erfolgt im Betrieb und nicht im Privathaushalt der Mitarbeiter. Entsprechende Unfallverhütungsvorschriften schreiben diese Maßnahmen vor. Die Straßenabläufe werden heute mit einem Schlammsaugwagen gereinigt. Hierbei wird zuerst der Schmutzfänger leer gesaugt und der im Ablauf befindliche Schmutz abgespült.
Abläufe sind Bestandteil der Straße. Sie sorgen dafür, dass bei Regen die Verkehrssicherheit gewährleistet ist. Da der Betrieb der Kanäle auch wesentlich über die Abläufe beeinträchtigt wird und eine Belüftung zur Vermeidung von Geruchsbelästigungen wichtig ist und weil das fachkundige Personal mit allen notwendigen Geräten bei der Stadtentwässerung zur Verfügung steht, wird auch von hier die Reinigung dieser Anlagen vorgenommen.
Die Kosten übernimmt die Straßenunterhaltung, denn sie dürfen nicht dem Abwassergebührenzahler angelastet werden. Schätzungen zufolge sind in Koblenz mehr als 10.000 Abläufe in den Straßen eingebaut – vor allem dort, wo Laubbäume stehen. Diese Abläufe müssen mehrmals im Jahr gereinigt werden.
5. Der neue Schlachthof
Erst 1890 wurde im heutigen Stadtteil Rauental ein öffentlicher Schlachthof seiner Bestimmung übergeben. Bis dahin stellten die 72 bestehenden Schlachtereien die Behörden vor schier unlösbare Probleme, denn die Betriebe lagen überwiegend in den Hinterhäusern der Alt- und Innenstadt. Die meisten Metzger ließen Abwässer und Blut in die Straßenrinnen laufen, Abfälle und Gedärme wanderten einfach in die Abtritte. Hinzu kam, dass viele Gruben undicht waren. Besonders beliebt war es, die Gruben so weit abzuteufen, dass sie bis auf die Kiesschichten des Rheines und der Mosel hinabreichten. Das bedeutete eine echte Gefahr für die Qualität des Grundwassers. In einigen Fällen wurden sogar die nur für das Oberflächenwasser gedachten Kanäle aus kurfürstlicher Zeit „angezapft“ und somit die Entsorgung von Problemabfällen auf „elegante Weise“ gelöst. Verschmutztes Wasser konnte dann durch die lockeren Kiesschichten in die Brunnen eindringen. Dass im Koblenz des 19. Jahrhunderts die Seuchen meist nicht so wüteten wie in anderen Städten, ist sicherlich seiner Lage an Rhein und Mosel zu verdanken. Die Strömung der beiden Flüsse sorgte meistens für den Abtransport des Unrates.100
Obwohl die Behörden bereits früh von einer möglichen Gefährdung der Verbraucher durch das Fleisch aus den kleinen Innenstadtschlachtereien ausgingen, gehört der lange Streit um ein zentrales Schlachthaus mit hygienisch einwandfreien Arbeitsbedingungen für die örtlichen Fleischer zu den wenig rühmlichen Kapiteln der Koblenzer Stadtgeschichte. Von den ersten Überlegungen in napoleonischer Zeit bis zur tatsächlichen Ausführung sollten gut 80 Jahre ins Land ziehen. Der Grund: Innerhalb der Festungsmauern gab es keinen Platz, der sich wirklich für den Bau eines Schlachthauses eignete.101
Vor den Toren der Festung Koblenz wollte die Kommune wegen der strengen preußischen Rayonbestimmungen nicht investieren. In Krisenfällen musste man damit rechnen, die teure Anlage auf eigene Kosten beseitigen zu müssen. Dabei waren in Koblenz zentrale Einrichtungen für das Schlachtvieh nicht unbekannt. Am Moselufer war bereits 1764 ein Viehhof errichtet worden, der sich freilich nicht lange hielt. Das passte gut zu den Entwicklungen in anderen deutschen Städten, wo sich bereits im Dreißigjährigen Krieg der Niedergang der schon im Mittelalter bekannten zentralen Schlachtstätten bemerkbar machte.102
Auch die Franzosen vermochten nicht, die in Koblenz klaffende Lücke zu schließen. Zwar hatte man bereits 1807 die Florinskirche für einen Umbau zum Schlachthof auserwählt und an die Stadt geschenkt, doch sollten die Pläne nicht umgesetzt werden. Das Gotteshaus blieb ein Stall, bevor es 1824 durch den preußischen Staat an die evangelische Gemeinde übergeben wurde. Der Vorgang zeigt, wie weit Anspruch und Wirklichkeit in der Praxis auseinanderlagen. Dabei hatte man in Frankreich bereits 1791 die Vieh- und Fleischbeschau eingeführt. Napoleon war sogar noch einen Schritt weitergegangen: Der Kaiser schrieb 1810 für alle größeren und mittleren Städte den Bau von Schlachthäusern und die Einführung des Schlachthauszwanges vor.103
Dieser Ansatz wurde in den deutschen Staaten erst nach der Jahrhundertmitte verfolgt. Entscheidend war hierbei der medizinische Fortschritt: Durch mikroskopische Untersuchungen fand man heraus, dass die Epidemien der 1850er- und 1860er-Jahre oft durch verdorbenes Fleisch verursacht worden waren. Erst jetzt forderten Wissenschaftler die Einführung einer verpflichtenden Fleischbeschau durch Veterinäre und den Bau von öffentlichen, streng überwachten Schlachthäusern. Erneut war es der „Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege“, der sich in der Debatte hervortat.104
Auf staatlicher Ebene waren die gesetzlichen Grundlagen relativ früh geschaffen worden. Vorreiter war wieder einmal Preußen, das 1868 ein Schlachthausgesetz erließ, das bald von anderen deutschen Staaten übernommen wurde. Das Gesetz gab Kommunen eine rechtliche Handhabe, durch ein Ortsstatut die Einrichtung von Schlachthäusern vorzuschreiben. Mit dem Gesetz war auch der Zwang verbunden, Schlachtvieh in diesen Häusern tierärztlich untersuchen zu lassen.105 Da der preußische Staat die Umsetzung der neuen gesetzlichen Vorschriften den Kommunen überließ, sollte es recht lange dauern, bis das Recht überall umgesetzt war. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbesserte sich die Lage entscheidend. Von 78 deutschen Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern hatten 1908 immerhin 72 zentrale Schlachthöfe. Darüber hinaus gab es 47 kommunale Viehhöfe.106
In Koblenz selbst hatte Landrat von Frentz in seiner Eigenschaft als Polizeidirektor immer wieder auf die indiskutablen Zustände in den Privatschlachtereien und bereits 1865 – also drei Jahre vor Inkrafttreten des entsprechenden preußischen Gesetzes – den Bau eines zentralen Schlachthauses gefordert. Von Frentz verwies auf die jüngste Revision durch die Sanitätskommission und die Forderungen der Königlichen Regierung aus den Jahren 1857 und 1859. Besonders interessant: Der Polizeidirektor betonte ausdrücklich, dass auch die örtlichen Fleischer die Notwendigkeit des Schlachthausbaus längst erkannt hatten. Entsprechende Berichte über den Bau von Schlachtanlagen in Aachen, Bonn, Köln und Düsseldorf lagen seit 17. Februar 1859 vor. Der Landrat räumte ein, dass man in der Polizeidirektion schon zu diesem Zeitpunkt fälschlicherweise über Zwangsmaßnahmen gegen die Stadt Koblenz nachgedacht habe.
Die Königliche Regierung hatte bereits am 2. März 1859 derartige Maßnahmen abgelehnt und hervorgehoben, dass die Stadt grundsätzlich mit dem Bau eines Schlachthauses einverstanden war. Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch das grundsätzliche Problem, dass kein geeignetes Grundstück zur Verfügung stand. Die Polizeidirektion hatte sich unmittelbar nach der Antwort der Bezirksregierung verpflichtet, bei der Vermittlung geeigneter Bauplätze behilflich zu sein. Am 12. März 1859 schlug die Direktion drei solcher Bauplätze vor, weitere Angebote folgten am 24. und 28. Oktober sowie am 24. November 1859. Gleichzeitig forderte man Informationen über die neuen Schlachthäuser in Speyer und Worms an und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass die Grundstücke107 für das Projekt ungeeignet waren. Alle Beteiligten beschlossen, die Sache vorläufig auf sich beruhen zu lassen.108
Die lange Zeit unbeantwortete Frage, ob man in Zukunft mit oder ohne Stadtbefestigung leben würde, verzögerte gerade in Koblenz die Realisierung eines zentralen Schlachthofes, obwohl das Reichsgesetz über den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen vom 14. Juni 1879 eigentlich eine ganz andere Richtung vorgab. Es lag nicht nur im Interesse der Allgemeinheit, einen einwandfreien öffentlichen Schlachtplatz zu schaffen, sondern auch im Interesse der einzelnen Fleischer. Die herrschenden Zustände waren bestens geeignet, dass sich alle Beteiligten gegenseitig diskreditieren. Das zeigt das Beispiel des Metzgers Ohligschläger, mit dem sich die Koblenzer Stadtverordneten mehrmals befassten. Wie ein Brief des betroffenen Metzgermeisters zeigt. Ohligschläger setzte sich gegen hartnäckige Gerüchte zur Wehr, dass er minderwertiges Fleisch unter indiskutablen Umständen verarbeitet hatte. Da derartige Vermutungen früher wie heute oft den wirtschaftlichen Ruin der Betroffenen bedeuten, beeilte sich Ohligschläger, die Herkunft seines Fleisches nachzuweisen und auch seinen Bonner Geschäftspartner zu nennen.109
Da auch Klagen der Metzger nicht selten gewesen sein dürften, kam jetzt doch relativ schnell Bewegung in die Sache. 1884 erwarb die Stadt das gesamte Gelände des Bassenheimer Hofes110. Dort wollte man endlich das schon lange geforderte Schlachthaus einrichten. Entsprechende Pläne wurden ausgearbeitet und dann bei der Bezirksregierung als „Oberer Genehmigungsbehörde“ eingereicht. Ähnlich wie in der heutigen Bauleitplanung musste das Projekt offengelegt werden. Die Bedenken gegen das Schlachthaus an dieser exponierten Stelle der westlichen Altstadt ließen nicht lange auf sich warten. Oberstabsarzt Dr. Herzer, Chef des benachbarten, im früheren Dominikanerkloster eingerichteten Garnisonslazaretts, erhob Einspruch wegen der zu erwartenden Geruchs- und Lärmbelästigungen.
Schließlich befasste sich das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe mit der Angelegenheit. In Berlin sah man die Dinge ganz ähnlich und lehnte im Bescheid vom 28. Februar 1885 den Bau eines Schlachthauses an dieser Stelle vorläufig ab. Begründung: Die zu erwartenden Ausdünstungen, die die Gesundheit der Patienten gefährden könnten. Gleichzeitig nahm das Ministerium die Stadt in die Pflicht, Verhandlungen über einen besseren Standort außerhalb der Festungsumwallungen aufzunehmen. In Berlin ließ man durchblicken, dass der Militärfiskus gegebenenfalls zu erheblichen Zugeständnissen bereit war. „Zu Folge dieses Rescriptes wurde das Vorhaben, das städtische Schlachthaus in den Bassenheimer Hof zu verlegen, endgültig fallen gelassen, was als ein wahres Glück zu betrachten ist, da der eng begrenzte Raum und die Lage inmitten eines dicht bevölkerten Stadtviertels und in unmittelbarer Nähe des Garnisonslazareths so viel Übelstände mit sich gebracht haben würden, dass die schlachthauslose Zeit schließlich noch bei Weitem den Vorzug verdient hätte“, lautete schließlich das positive Fazit von Oberbürgermeister Emil Schüller.111
Im heutigen Stadtteil Rauental, am sogenannten „Hundspfad“, wurde man schließlich fündig. Die Stadt erwarb „zu mäßigem Preise“ ein rund drei Hektar großes Grundstück, das rund 800 Meter von der „inneren Stadtgrenze“ entfernt lag. „Eine solche Fläche bot allein die Möglichkeit, ein öffentliches Schlachthaus mit allen sich an das eigentliche Schlachtgebäude nothwendigen oder wünschenswerthen Anlagen und Bequemlichkeiten, wie sie in der Neuzeit bei allen größeren städtischen Schlachthäusern sich vorfinden, zu errichten“, heißt es dazu im Verwaltungsbericht.112
Sofort begannen die Planungen. Für das Projekt war der damalige kommissarische Stadtbaumeister Georg Breiderhoff verantwortlich. Die Planungsphase war 1886 abgeschlossen. Wie vom Ministerium bereits angekündigt, zeigte sich die örtliche Militärbehörde entgegenkommend und gestattete die Errichtung massiver Bauten auf dem neuen Schlachthofgelände im Rauental.113 Die Entscheidung fiel den Militärs leicht – mit dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 hatte die Festung Koblenz ihre einst hervorragende strategische Bedeutung verloren.
Die Planungen von Georg Breiderhoff wurden schließlich von Friedrich Wilhelm Ludwin Mäckler (1852–1913) umfassend überarbeitet. Der neue Regierungsbaumeister und Stadtbaurat hatte 1886 sein Amt angetreten und wirkte in dieser Funktion bis 1913.114 Am 22. Februar 1888 machten die Koblenzer Stadtverordneten endgültig den Weg für den Bau des Schlachthofes frei, der – laut Berechnungen Mäcklers – rund 400.000 Mark kosten sollte. Die Genehmigung der Königlichen Regierung als Obere Genehmigungsbehörde folgte am 27. April.115 Der Bau konnte beginnen: Am 4. Juli wurde der Grundstein gelegt. Die folgenden Bauarbeiten erledigten ausschließlich Koblenzer Unternehmen. Eine Ausnahme waren die Steinmetzarbeiten von Mathias Luxem aus Mayen.116
Mit dem Baubeginn wurden endlich lange Auseinandersetzungen zu den Akten gelegt. Allerdings war das stetige Verzögern des Schlachthofes keine Koblenzer Spezialität. Auch in anderen Städten tat man sich schwer, den Anfang zu machen, wie das Göttinger Beispiel zeigt. Dort wurde 1883 ein städtisches Schlachthaus in Betrieb genommen.117 Überhaupt gab es in Preußen nur zehn Städte, die das neue Gesetz mit dem Bau neuer Schlachthöfe zügig umsetzten.
Die zögerliche Haltung anderer Gemeinden ist nicht eine Folge ungeklärter Stadtentwicklungsfragen, sondern das Ergebnis einer Gesetzeslücke. Die neue Rechtslage ließ völlig offen, wie mit eingeführtem Fleisch zu verfahren war. Für diese Ware gab es nämlich keinen Untersuchungszwang. Dieser unhaltbare Zustand wurde erst durch die Gesetzesnovelle vom 9. März 1881 beseitigt. Zuvor hatte es Protestaktionen und Petitionen preußischer Städte gegeben, wobei sich auch gemeinnützige Vereine hervortaten.118 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass nicht nur militärische Gründe Ursachen für die zögerliche Haltung der Stadtverwaltung waren. Auf jeden Fall entstand am Ende eine Anlage, die alle aktuellen Standards der damaligen Zeit erfüllte.
Der Koblenzer Schlachthof bestand aus einem Viehhof und dem eigentlichen Schlachthof. Beide Bereiche waren durch eine Mauer getrennt. Zum Schlachthof gehörten eine Schlachthalle für Groß- und Kleinvieh, die Schweineschlachthalle, Stallungen, die Kaldaunenwäsche, das Kühlhaus, das Maschinengebäude sowie das Verwaltungsgebäude mit den daran anschließenden Stallungen und Schuppen – auch für das kranke Vieh. Der Viehhof enthielt neben Stallungen auch einen Gastronomiebetrieb.119
Zum „Stammpersonal“ der neuen kommunalen Einrichtung gehörten neben dem Direktor Renner ein Rechnungsführer, zwei Hallenmeister, ein Pförtner, mehrere Trichinenschauer, die Maschinisten und mehrere Hilfsarbeiter. Der Direktor hatte im Verwaltungsgebäude eine Dienstwohnung.120 Der neue Schlachthof wurde wie in den meisten anderen deutschen Kommunen von der Stadt selbst betrieben und am 15. Mai 1890 feierlich eingeweiht, wobei sich die Koblenzer Metzgerinnung mit einem Umzug beteiligte. Sofort begann der Schlachtbetrieb: Bis zum 1. April 1891 wurden bereits 3967 Stück Großvieh und 19.480 Stück Kleinvieh geschlachtet.121 Damit wurde auf Anhieb die Leistungsfähigkeit aller Koblenzer Metzgereien übertroffen. Zum Vergleich: 1865 waren in der Stadt 2011 Ochsen und Stiere, 13.346 Kälber, 3881 Schweine und 2049 Schafe geschlachtet worden.122
Bereits im Berichtsjahr 1891/92 stieg die Zahl der geschlachteten Tiere auf insgesamt 33.615. 1892/93 wurde mit 33.951 Schlachtungen ein erster Höhepunkt erreicht. Allerdings war man mit der Qualität des Fleisches nicht zufrieden. Die Verwaltung führte diese Entwicklung auf die „abnormen Witterungsverhältnisse“ mit einem strengen Winter und einem heißen Sommer zurück. Eine Folge war die ungünstige Heu- und Kleeernte. Viele Landwirte waren gezwungen, „alle nur irgendwie entbehrlichen Viehstücke zu jedem annehmbaren Preise abzusetzen, während es andererseits den Metzgern kaum möglich war, gut gemästete Tiere zu beschaffen.“123 Trotz dieser Tatsachen blieb man wachsam. So wurden 1892/93 53 Schlachttiere beschlagnahmt und durch Verbrennung vernichtet.124
Das Kühlhaus des neuen Schlachthauses war besonders beliebt. Die Koblenzer Metzger mieteten alle die für sie zur Verfügung stehenden Flächen. Die Stadtverwaltung lieferte zu dieser Feststellung auch gleich die passende Begründung: „So werden die Metzger durch die Benutzung des Kühlhauses in den Stand gesetzt, günstige Handelskonjunkturen ohne Rücksicht auf Konsum- und Witterungsverhältnisse auszunützen und zudem zu jeder Zeit vollständig küchenreifes Fleisch liefern zu können.“ Ein weiterer Vorteil des neuen Schlachthofes: Die moderne Technik machte es möglich, Kristalleis in großen Mengen herzustellen. Im Berichtsjahr 1892/93 wurden 19.378 Zentner produziert.125
Die Eröffnung des Schlachthofes leitete auch das Ende der traditionellen Fleischmärkte in der Altstadt ein. Endgültig verboten wurde das offene Feilbieten von Fleisch auf den Straßen mit Erlass der Polizeiverordnung vom Februar 1899. Allerdings gab es Ausnahmen: Auf Wochen- und Jahrmärkten war der Verkauf nach wie vor erlaubt. Aber auch in diesen Fällen war der Verschluss des Fleisches zum Transport vorgeschrieben. Grundsätzlich galt: Fleisch durfte nur in hellen, sauberen Räumen verkauft werden.126
Immer wieder erneuert wurde auch der Schlachtzwang im neuen Schlachthof. Details wurden in den Ortsstatuten von Dezember 1901, März 1902 und schließlich in der Neufassung vom März 1905 festgelegt. Die Bestimmungen galten für einen Radius von 50 Kilometern. Alles, was in diesem Bereich nicht im Schlachthaus geschlachtet wurde, durfte nicht mehr verkauft werden. Die Regelung galt für das Schlachten von Rindern, Schweinen, Schafen, Ziegen, Pferden, Eseln, Maultieren, Mauleseln und Hunden. Notschlachtungen außerhalb der Einrichtung waren nur dann zulässig, wenn die Gefahr bestand, dass Tiere auf dem Transport zum Schlachthause verendeten „oder daß das Fleisch des Tieres durch Verschlimmerung des krankhaften Zustandes wesentlich an Wert verlieren werde, oder wenn das Tier infolge eines Unglücksfalles dort getötet werden muss“.
Auch das Abhäuten und Ausweiden des Viehes war – mit Ausnahme des Abhäutens von Kälbern – nur im Schlachthaus zulässig. Gleiches galt für das Entleeren und Reinigen von Gedärmen und Eingeweiden sowie für das Brühen des geschlachteten Viehs. Dazu kam, dass alles Schlachtvieh der Fleischbeschau unterlag.127 Dieses Ortsstatut wurde im Juni 1912 noch einmal erneuert und 1920 durch eine Verordnung über die Beseitigung von Tierkörpern in der Verwertungsanstalt im Schlachthof ergänzt.128
Seit der Eröffnung des Schlachthofes war die Obrigkeit nicht nur bemüht, klare Regeln für die Metzger aufzustellen, sondern Vorschriften für das ganze Nahrungsmittelhandwerk auf den Weg zu bringen, die vor allem die Geschäfte betrafen. So erließ Oberpräsident Dr. Clemens Freiherr Schorlemer-Lieser im Juli 1907 Vorschriften für die Einrichtung von Bäckereien. Darin war genau festgelegt, wie und wo die Öfen aufzustellen waren. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass die Arbeitsräume der Bäcker in keinem direkten Zusammenhang mit Bedürfnisanstalten oder Ställen stehen durften.129 Im Frühjahr 1909 folgte eine neue Polizeiverordnung über die Einrichtung von Fleischereien. Darin wurde endgültig verboten, die Räumlichkeiten für Metzgereien unter Straßenniveau anzulegen. Außerdem schrieb man „wasserdichte Böden“ und die Kachelung der Räume vor.130
Reglementiert wurden auch die Betriebe, die auf die Entsorgung oder Weiterverarbeitung von tierischen Abfällen spezialisiert waren. Die im Oktober 1906 erlassene Polizeiverordnung gestattete die Errichtung von entsprechenden Betrieben nur im nordwestlichen Bereich des Stadtbezirks. Dies waren zum Beispiel Knochenmühlen und Knochenkochereien oder Gerbereien. Das Gebiet, in dem die Einrichtung solcher Anlagen gestattet war, reichte bis an die Gemarkungsgrenzen der damals noch selbstständigen Gemeinden Bubenheim, Kesselheim und Metternich heran. Auch für den in der Polizeiverordnung genau beschriebenen Bereich gab es Einschränkungen. So musste beim Bau von Lagern und Anlagen ein Abstand von mindestens 50 Metern von der Landstraße Koblenz-Köln eingehalten werden. In der Nähe des Klosters Maria Trost durften solche Betriebe gar nicht errichtet werden.131
Zweifellos brachten der Bau des Schlachthofs und die zahlreichen neuen Polizeiverordnungen nicht nur aus hygienegeschichtlicher Sicht Verbesserungen und eine deutliche Entspannung der Situation in den engen Altstadtquartieren. Trotz allem war das Entsorgungsproblem noch längst nicht gelöst. Die Schlachtabfälle wurden ohne Vorbehandlung über einen gemauerten Kanal direkt in die Mosel geleitet. Er wurde im Volksmund „Blutkanal“ genannt und führte ein Stück unterhalb der heutigen Staustufe in den Fluss hinein.132 Auch bei den später flussaufwärts errichteten Krankenhäusern Marienhof und Kemperhof lief es nicht besser: Die Klinikabfälle wurden über den sogenannten „Eiterkanal“ direkt in die Mosel geführt – und zwischen Marienhof und Schlachthaus befand sich bis zur Moselkanalisierung eine Stelle, die zwar keine offizielle Badeanstalt war, aber dennoch gerne von den Koblenzern wegen des leichten Zugangs zum Wasser genutzt wurde. Trotz dieser widrigen Umstände soll das Flusswasser sehr klar gewesen sein.133
Auch nach den erheblichen Erweiterungen von 1911/12 sollte der Schlachthof noch einmal vergrößert werden. Das Wachstum von Koblenz infolge der Eingemeindungen und die Wiederherstellung der Militärpräsenz an Rhein und Mosel machten 1938 umfassende Bauarbeiten erforderlich. Am 1. Mai begannen die Arbeiten zur Vergrößerung der Rinderschlachthalle. Zudem wurden Boxen für Kälber gebaut. Schließlich wurde auch die Kaldaunenhalle erweitert.134
Im Zuge der Luftangriffe von 1944/45 wurde der Koblenzer Schlachthof schwer beschädigt. Die französische Militärbehörde beschlagnahmte schließlich das Areal, sodass der Betrieb zur Versorgung der Zivilbevölkerung bis 1948 nur eingeschränkt möglich war. 1957 begannen die Planungen für einen neuen Schlachthof, der dann innerhalb von fünf Jahren in mehreren Bauabschnitten vollendet wurde. Die umfassende Modernisierung ermöglichte noch einmal eine deutliche Steigerung der Schlachtzahlen. 1983 wurde schließlich mit 82.000 Stück der absolute Höchststand erreicht.135
Zu Beginn der 1980er-Jahre hatte der Schlachthof bereits seinen Zenit überschritten. Zwischenzeitlich waren die Schlachtzahlen so weit gesunken, dass die Rentabilitätsvorgaben der EWG nur knapp eingehalten werden konnten. Ergebnis: Bereits 1975/76 verlor der Schlachthof seine Großmarkteigenschaft. Rechtliche Grundlage war ein entsprechender Beschluss des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Landwirtschaft, Weinbau und Umweltschutz.
Schließlich meldete die Einrichtung ein jährliches Defizit zwischen 100.000 und 400.000 DM. Vor diesem Hintergrund verzichtete die Stadt Koblenz auf die von der EU geforderten umfassenden Ausbau- und Modernisierungsmaßnahmen, nachdem zuvor alle Privatisierungsversuche gescheitert waren. Am 18. Juni 1993 wurde der Koblenzer Schlachthof endgültig geschlossen. Später wurde die Anlage fast vollständig abgebrochen, um Platz für ein neues Gewerbegebiet zu machen. Erhalten ist nur noch die Nutzviehhalle von 1912.136
6. Politik, Technik und Hygiene
Dass trotz der relativ überschaubaren Größe der Stadt dringend eine neue Kanalisation gebaut werden musste, wussten die Behörden in Koblenz sehr früh. Die großen Choleraepidemien seit den 1830er-Jahren hatten auch an Rhein und Mosel bleibende Eindrücke hinterlassen – obwohl man, abgesehen von den Epidemien von 1849/50 und 1866, glimpflich davongekommen war. Einen ersten Impuls gab die Königliche Regierung bereits 1858. Wie bereits im ersten Teil geschildert, hatte die Bezirksregierung schon früh damit begonnen, Hygienestandards zu definieren. Nun drängte man auf den Bau unterirdischer Kanalsysteme, um den schädlichen Einfluss der Abwässer auf das Grundwasser und damit vor allem auf die Brunnen in der Stadt zu vermeiden.
Die Initiative blieb jedoch fruchtlos, weil Koblenz zu dieser Zeit nicht genügend Wirtschaftskraft hatte, um solch ein Großprojekt zu finanzieren. Staatliche Zuschüsse waren nicht zu erwarten, außerdem fehlten damals noch die rechtlichen Instrumente, zumindest einen Teil der Ausbau- und Erschließungskosten auf die Hauseigentümer umzulegen. Und so verwundert es nicht, dass das Projekt zwar in der städtischen Baukommission beraten, aber von den Stadtverordneten aus Kostengründen abgelehnt wurde.137
In Koblenz entschied man sich dafür, erst einmal die Erfahrungen aus anderen Städten abzuwarten. Diese Entscheidung ist auch aus heutiger Sicht verständlich. Konkurrierten doch damals die unterschiedlichsten Systeme, über deren Sinn und Unsinn vor allem in den großen deutschen Städten erbitterte Diskussionen geführt wurden.138 Dazu kommt, dass in Koblenz der Bau einer wirklich zukunftsfähigen Kanalisation über weite Strecken des 19. Jahrhunderts wegen der militärischen Gegebenheiten überhaupt nicht möglich war und man sich ganz bewusst mit den bereits vorhandenen Provisorien begnügte. Die Realisierung einer „modernen“ und an den tatsächlichen topografischen Verhältnissen orientierten Kanalisation war an Rhein und Mosel unmittelbar mit der Frage nach der künftigen Stadtentwicklung verknüpft. Und über viele Jahrzehnte sah es eben so aus, dass die Stadt an Rhein und Mosel ihren Festungsgürtel nicht sprengen konnte.
Erst als feststand, dass sich – wie nachstehend noch ausführlich geschildert wird – die seit den 1850er-Jahren angestrebte Stadterweiterung doch noch durchsetzen ließ, gingen Stadtvorstand und Kommunalpolitik nicht nur die Realisierung einer vernünftigen Trinkwasserversorgung an, sondern eben auch den Bau einer erweiterungsfähigen Kanalisation, an die später auch Systeme zur Abwasserbehandlung angeschlossen werden konnten. Es ist also kein Zufall, dass die Koblenzer Stadtverordneten am 31. Oktober 1888 den „Weg für die Ausarbeitung eines Planes zur Kanalisation der Stadt und des Bezirkes vor den Toren der Stadt“ beschlossen und ein Jahr später damit den Ingenieur Adolf André in Krefeld beauftragten.
6.1 Die Schwemmkanalisation
Am Beispiel der großen europäischen und deutschen Metropolen ist in jüngerer Vergangenheit immer wieder aufgezeigt worden, dass die über Jahrhunderte gewachsene kommunale Infrastruktur den Herausforderungen der neuen Zeit nicht mehr gewachsen war. Erst seit einiger Zeit rücken die kleineren Städte zunehmend in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Dabei zeigt das Koblenzer Beispiel, dass das Erstarken der Hygienebewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus lokale Auswirkungen hatte, die allerdings vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Zwänge in den Kommunen nicht überschätzt werden sollten. Dennoch begann auch in anderen Festungsstädten die Diskussion um die grundsätzliche Neuordnung der unzureichenden Ver- und Entsorgungssysteme. Im badischen Rastatt zum Beispiel, das damals rund 11.500 Einwohner hatte, wurden bereits kurz nach dem Ende des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 die ersten Maßnahmen in die Wege geleitet. Zum Vergleich: In Koblenz lebten damals rund 24.000 Menschen. Für Rastatt legte Oberingenieur Julius Eisenlohr, Vorstand der örtlichen Wasser- und Straßenbau-Inspektion, Anfang März 1869 ein Gutachten vor, in dem der Bau einer unterirdischen Kanalisation im Mittelpunkt stand.139
Anders als in Koblenz, wo entsprechende Überlegungen – wie bereits geschildert – bis ins Jahr 1858 zurückreichen, nahmen die Vorüberlegungen schnell deutliche Konturen an: Gemeinderat und Großer Bürgerausschuss machten bis Mitte April 1869 den Weg für den Bau einer Kanalisation frei, in die Abwasser aus Küchen, Waschküchen und Niederschlagswasser geleitet werden durften, während Aborte ausdrücklich ausgeschlossen waren. Nachdem im Mai 1869 ein entsprechender Vertrag mit der Firma Lang in Karlsruhe abgeschlossen worden war, konnten die Arbeiten beginnen, wobei es bis weit in die 1890er-Jahre dauerte, bis alle Stadtteile angeschlossen waren.140 Das Abwasser wurde zunächst in die Murg geleitet, doch zwangen die Industrieansiedlungen schon um die Jahrhundertwende dazu, über den Bau einer Kläranlage nachzudenken, die dann aber doch erst am 3. Juli 1913 in Betrieb genommen wurde.141
Auch das Rastatter Beispiel steht dafür, wie sich bei Projektierung und Einrichtung von neuen Kanalsystemen im 19. Jahrhundert in deutschen Städten zunehmend die sogenannte Schwemmkanalisation durchsetzte, die gelegentlich auch Vollkanalisation genannt wird. Dabei handelt es sich um ein unterirdisches Rohrsystem, in dem feste und flüssige Stoffe durch die Schwemmwirkung des Wassers transportiert werden. Hierzu bedarf es besonderer Konstruktionsprinzipien. Hatten die älteren Kanäle noch rechtwinklige Querschnitte, erhielt die Kanalisation der neuen Generation die Form eines Eis, dessen Spitze nach unten gekehrt war. Diese eigenwillige Gestaltung, die auch heute noch üblich ist, bewirkte, dass auch bei niedrigen Wasserständen die Schwemmwirkung erhalten blieb. Bei der Schwemmkanalisation gibt es zwei Varianten: Das Mischprinzip und das Trennsystem. Nach dem Mischprinzip werden Regen- und Schmutzwasser in einem gemeinsamen Kanalsystem „abgeschwemmt“. Dagegen gibt es beim Trennsystem separate Kanäle für Regen- und Schwemmwasser.142
Die Einführung einer Schwemmkanalisation bedeutete jedoch nicht zwangsläufig, dass auch Fäkalien in die örtlichen Systeme eingeleitet wurden. Im Gegenteil: Zumindest in der Anfangszeit war vielerorts genau das ausdrücklich verboten – die Fäkalien mussten in turnusgemäß zu leerenden, wasserdichten Gruben gesammelt werden. Ein Musterbeispiel hierfür ist Erlangen, wo die Kanalisation bereits um 1872 neu geordnet wurde, es aber noch 25 Jahre dauern sollte, bis die Trockentoiletten allmählich durch Wasserklosetts abgelöst wurden.143 Erlangen war kein Einzelfall. Selbst in den größeren Städten sollte es Jahrzehnte dauern, bis sich das WC durchgesetzt hatte. So waren 1871 in Berlin erst 11,6 Prozent der Vorderhäuser mit Wasserklosetts ausgestattet. Bei den Hinterhäusern lag die Quote sogar nur bei 3,1 Prozent.144
Als sich auch in den deutschen Städten das Wasserklosett durchsetzte145, stieß diese Regelung jedoch oft an ihre Grenzen, weil – bedingt durch den steigenden Wasserverbrauch – die Kapazitäten der Abortgruben nicht mehr ausreichten. Man ging dazu über, die Fäkalien in die Schwemmkanalisation einzuleiten. Dabei setzte man auf die Selbstreinigungskraft der Gewässer – der Bau von wirksamen Kläranlagen setzte sich vielerorts erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Das Londoner Vorbild stand übrigens am Anfang dieser folgenreichen Fehlentwicklung. Als die erste europäische Millionenstadt in den Jahren von 1858 bis 1865 als Reaktion des „Great Stinks“ der Themse von 1857 eine Schwemmkanalisation erhielt, war diese für die Aufnahme von Fäkalien bestimmt, die über Abfangkanäle in die Außenbezirke der Stadt und dann direkt in die Themse geleitet wurden.146
Trotz der immensen Investitionen ist aus heutiger Sicht unverständlich, warum nichts für die Klärung der Abwässer getan wurde. Dabei war es gerade ein Engländer, der bereits anlässlich der Londoner Choleraepidemien von 1848 und 1854 auf den Zusammenhang von Cholerainfektionen und verschmutztem Trinkwasser hingewiesen hatte: Lord John Snow (1813–1858) gilt in der medizinhistorischen Literatur als erster Epidemiologe, dem dieser Nachweis gelang. Snow hatte sich dabei auch statistischer Methoden bedient und nach der Untersuchung von Brunnen darauf hingewiesen, dass die tödliche Infektionskrankheit durch Kleinstlebewesen übertragen wurde.147
Auch wenn John Snows Erkenntnisse nicht wirklich in die medizinische Diskussion in Deutschland einflossen, war dort die Praxis umstritten, Abwässer einfach ungeklärt in die Flüsse zu leiten. Das lag auch daran, dass es bereits Untersuchungen gab, deren Ergebnisse gar nicht so weit von den Erkenntnissen Lord Snows entfernt waren. Zu nennen ist vor allem der Privatdozent Cohn, der bereits 1853 die Ergebnisse seiner mikroskopischen Untersuchungen veröffentlichte. Cohn war bei der Breslauer Choleraepidemie von der örtlichen Sanitätskommission mit der Untersuchung der Brunnen beauftragt worden.148
Nicht überall wollte man dem Londoner und Hamburger Vorbild folgen, wie zum Beispiel die Auseinandersetzungen um die Neuorganisation der Baseler Entsorgung zeigen, die bislang über Kanäle und Bäche erfolgte. Die Entscheidung brachte im Juni 1876 eine Volksabstimmung. Ergebnis: Das kommunale Gesetz zur Einführung der Schwemmkanalisation wurde abgelehnt.149 Auch in Deutschland gab es Widerstand. Das zeigen zum Beispiel die Auseinandersetzungen um den Neubau der Berliner Kanalisation nach Plänen von Eduard Wiebe (1804–1892).
Auch in der preußischen Hauptstadt war zunächst geplant, Abwässer und Fäkalien ungeklärt in die Spree zu leiten. Die Kritiker warnten vor der Verunreinigung und dem Gestank des Flusswassers. Ihr Hauptargument: Der Verlust wertvollen Düngers für die Landwirtschaft. Dabei beriefen sie sich auf die Erkenntnisse des renommierten Chemikers Justus von Liebig (1803–1873) und seiner „Raubbautheorie“. Der Gießener Professor hatte 1862 seine Schrift „Einleitung in die Naturgesetze des Feldbaus“ veröffentlicht, in der er auf den Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und der Fruchtbarkeit der Böden hingewiesen hatte. Justus Liebig mahnte zu einem pfleglichen Umgang mit den menschlichen Abgangsstoffen im Sinne der Aufrechterhaltung eines natürlichen Kreislaufes und machte von der „Entscheidung der Kloakenfrage der Städte die Erhaltung des Reichtums und der Wohlfahrt der Staaten und die Fortschritte der Cultur und Zivilisation“ […] abhängig.150 Dieser Gedanke wurde 1891 auch von August Bebel aufgenommen. Der „SPD-Urvater“ behauptete: „Die höchste Entwicklung des Bodenertrags und seine Erhaltung in fruchtbarem Zustande hängt in erster Linie von genügenden Dungstoffen ab, es wird also die Gewinnung und Aufbewahrung derselben auch für die neue Gesellschaft eine der wichtigsten Aufgaben sein.“151
6.2 Tonnen- und Kübelsysteme
Auch wenn die Vorbilder London und Hamburg die Einführung der Schwemmkanalisation in vielen europäischen Städten forcierten, wollte man sich nicht überall mit einer Technik anfreunden, die wertvollen Naturdünger verschwendete und einfach in die Flüsse leitete. So entschied sich die Züricher Gemeindeversammlung am 3. März 1868, nicht für die in Deutschland favorisierte Schwemmkanalisation nach dem englischen Vorbild, sondern für das Tonnensystem nach dem Pariser Vorbild (Fosses mobiles à Diviseur). Dabei wurde jeder Abtritt an einen Kübel angeschlossen. Es spielte keine Rolle, ob ein Abort mit oder ohne Wasserspülung ausgestattet war. Im Inneren dieser Tonnen befand sich ein Sieb, das alle festen Stoffe zurückhielt, während Urin und Spülwasser in die Kanalisation flossen. Der Grund der Entscheidung für dieses System war nicht nur die mögliche Gewinnung von Dungstoffen. Auch der Gewässerschutz spielte bereits eine wichtige Rolle – man wollte die Limmat nicht übermäßig verschmutzen. Das System hatte einen weiteren entscheidenden Vorteil: Es ließ sich mit einer Schwemmkanalisation kombinieren. Der Nachteil: Die Stadt musste einen eigenen Abfuhrbetrieb gründen.152
In den meisten Städten war das Tonnensystem wesentlich einfacher konstruiert. Der gesamte Unrat wanderte demnach in Tonnen, die in der Regel in den Kellern der Häuser aufgestellt waren. Von Zeit zu Zeit wurden die Tonnen abgefahren, wobei jedes Mal das Fallrohr neu abgedichtet werden musste. Und es war an der Tagesordnung, dass die Tonnen einfach überliefen. Dennoch hielt sich dieses Verfahren erstaunlich lange – in Heidelberg sogar bis 1923. Deswegen heißt dieses System, das übrigens auch zur Entsorgung der Fäkalien im Koblenzer Bürgerhospital eingesetzt wurde, auch „Heidelberger Tonnensystem“. Noch simpler war die Entsorgung nach dem sogenannten „Kübelsystem“: Die Exkremente wanderten dabei in kleinere Kübel. Waren sie voll, wurden sie morgens möglichst früh vor das Haus gestellt. Der Inhalt wurde dann einfach in einen offenen Abfuhrwagen gekippt. Da diese Wagen oft erst in der Mittagszeit kamen, verbreitete sich ein unerträglicher Gestank. Mitte des 19. Jahrhunderts war dieses Verfahren zum Beispiel in Bremen üblich. Die Verzögerungen bei der Abfuhr galten als Ärgernis ersten Ranges.153
Die regelmäßige Verpestung der Luft war der Hauptgrund, warum sich Kübel- und Tonnensysteme auf Dauer nicht hielten. Dazu kam, dass die Fäkalien zu stark verdünnt waren, sodass sie erst aufbereitet werden mussten, damit sie überhaupt als Dünger verwendet werden konnten. Bereits Max von Pettenkofer hatte auf die Unwirtschaftlichkeit solcher Verfahren hingewiesen und kritisiert, dass die in Tonnen fließenden Fäkalien Luft und Böden der Häuser verpesteten.154 Dieses Urteil ist gerade auch deshalb bemerkenswert, weil sich Pettenkofer während der Baseler Auseinandersetzungen noch gegen die Einführung einer Schwemmkanalisation ausgesprochen hatte. Der Hygieniker war dort 1866 als Gutachter eingeschaltet worden.155
An der Entwicklung zugunsten der Schwemmsysteme konnte auf lange Sicht auch das von Charles Liernur (1828–1893) im Auftrag des Prinzen Heinrich der Niederlande entwickelte Verfahren nichts ändern – obwohl das technisch sehr anspruchsvolle System heute als ein Vorläufer der Vakuumentwässerung gilt. Vereinfacht gesagt, bestand das 1865 vom niederländischen Ingenieur entwickelte System aus zwei verschiedenen „Ableitungssträngen“. Auf der einen Seite stand ein Rohr, in das Haus-, Regen- und Gewerbeabwasser flossen, auf der anderen Seite luftdicht miteinander verbundene Rohre, in die Fäkalien aus privaten Abtritten, öffentlichen Toiletten, Krankenhäusern, Schlachthöfen, Kasernen und anderen Einrichtungen flossen. Die Fortbewegung des Unrats in Zwischenreservoirs wurde schließlich über dezentrale Vakuumpumpstationen erreicht.156 Von dort flossen die Fäkalien in einen Haupttank. Der Inhalt konnte nach der Weiterverarbeitung – zum Beispiel Poudrettierung – in der Landwirtschaft als Dünger eingesetzt werden. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass sich Charles Liernurs pneumatisches System zwar durch einen geringen Wasserverbrauch auszeichnete, sonst aber sehr aufwendig und störanfällig war. Es kam somit nie über den versuchsweisen Betrieb hinaus. Einsatzorte waren die Städte Hanau, Prag, Leiden, Dordrecht und Amsterdam.157 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es am Ende des 19. Jahrhunderts weitere Alternativen zu Liernurs System gab, die sich vor allem durch erhebliche Wassereinsparungen hervortaten. Besonders bemerkenswert war das von Wilhelm Beetz entwickelte „wasserfreie Urinal“, bei dem Öl als „Verschluss“ für den abfließenden Urin diente.158 Seit einiger Zeit erfährt dieses geruchlose System an Autobahnraststätten eine Renaissance.
6.3 Die Rieselfelder
Die in vielen Städten erbittert geführte Diskussion um den Sinn und Unsinn der Schwemmkanalisation warf auch die Frage auf, wie Fäkalien und Unrat aller Art zu entsorgen waren. Dass die Flüsse nicht unbegrenzt aufnahmefähig waren, hatte sich spätestens mit dem „Great Stink“ der Themse gezeigt. Es kam nicht von ungefähr, dass Justus Liebig mit einem Gutachten beauftragt wurde, das das Entsorgungsproblem in London lösen sollte. Der Chemiker empfahl, die bestehende Schwemmkanalisation beizubehalten, aber auf die Ableitung der Abwässer in die Themse zu verzichten. Stattdessen sollte das gesammelte Abwasser auf Äckern und Wiesen verrieselt werden.159
Auch in Deutschland entstanden schon früh solche Rieselfelder. 1869 machte Danzig den Anfang. Die Stadt galt lange als ungesündeste Stadt Preußens, da die durchschnittliche Lebenserwartung um 1850 gerade mal bei 24 Jahren gelegen hatte.160 Bereits 1870 folgte Münster, 1873 Berlin. Der große Flächenbedarf von Rieselfeldern hatte zur Folge, dass sie eben nicht überall angelegt werden konnten. So dachte man in Hamburg laut über den Bau großer Becken nach, in denen sich der unlösliche Schmutz absetzen konnte. Ein anderer Aspekt ist, dass die Rieselfelder wegen des zu erwartenden störenden Gestanks unpopulär waren. Der Vorsatz, auf den Feldern Gemüse anzubauen, wurde wieder aufgegeben, weil keiner die Erzeugnisse essen wollte.161 Und: Der Unterhalt war so unangenehm, dass Sträflinge für die Arbeit zwangsverpflichtet werden mussten.162 Wie die Aufstellung Hermann Salomons von 1906 zeigt, gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur wenige Rieselfelder. Genannt werden Darmstadt, Dortmund, Freiburg und Mülhausen. Dazu kamen Systeme zur Wiesenberieselung in Enkirch, Laasphe, Pfalzburg, Schwelm und Witten. In Idstein und Königstein wurden die Abwässer nach vorheriger biologischer Behandlung verrieselt.163
Auf ganzer Linie konnten sich die Rieselfelder nie durchsetzen. Und dafür gab es nicht nur wirtschaftliche Argumente, was man zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst erkannt hatte. So wiesen Heinrich Deininger und Hermann André 1903 wie folgt auf den Hauptmangel hin: „Es sind jedoch nicht nur außerordentlich große Flächen Landes erforderlich, sondern auch die Qualität des Bodens spielt eine ebensolche Rolle, wenn nicht in ganz kurzer Zeit eine Übersättigung und Versumpfung des Bodens stattfinden soll. Die Beschaffung solchen für Rieselzwecke geeigneten Landes ist aber eine höchst schwierige Aufgabe und gestaltet sich zum Beispiel für Berlin geradezu zur Unmöglichkeit, da die umliegenden Ortschaften selbst das verfügbare Land zu ihren eigenen ähnlichen Zwecken mehr oder weniger dienstbar machen müssen. Die klimatischen Verhältnisse verbieten im Winter, so der Boden gefroren ist, eine Berieselung überhaupt – dieselbe ist deshalb nur als ein hygienischer Notbehelf zu betrachten und besitzt volkswirtschaftlich gar keinen Wert, da die Unkosten den Gewinn übersteigen.“164
Die vernichtende Bilanz des Chemikers und des Ingenieurs hatte aber noch einen ganz anderen Grund: Deininger und André hatten ein eigenes System entwickelt. Demnach sollten Abwässer in Reservoire einer „Fabrik“ fließen, in der Filterung, Klärung und Verdampfung möglich waren. Mit ihrer Erfindung bewarben sich die beiden Wissenschaftler auch in Koblenz – ohne Erfolg.165
6.4 Beschaffenheit der Gruben
In der Frühzeit der Schwemmkanalisation war es vielfach verboten, Fäkalien in die neuen Systeme einzuleiten. Die Exkremente wurden weiterhin in besonderen Gruben gesammelt, die turnusmäßig leer gepumpt wurden. Die neue Generation der Gruben sollte sich von der älteren dadurch unterscheiden, dass theoretisch keine Feuchtigkeit durch die Grubenwände durchsickern konnte. Man setzte auf die Eigenschaften des neuen Portland-Zements. Doch bereits der Essener Baukommissar Ludwig Brandis bemängelte, dass von „100 cementirten Gruben, welche älter als 6 Jahre sind, wenigstens 75 undicht sind.“166
Brandis führte die Mängel vor allem darauf zurück, dass Zement für die Abdichtung von Gruben gänzlich ungeeignet war, weil Jauche und Gase die „Isolierung“ im Laufe der Zeit zersetzten. Trotz der offensichtlichen Mängel waren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zementierte, überwölbte Gruben fortan baupolizeilich vorgeschrieben, ebenso der Schutz der Reinigungsöffnungen durch Sandstein- oder Metallplatten. Die in den Gruben entstehenden Gase wurden durch bis zum Dach führende Dunstrohre abgeleitet. Geruchsverschlüsse sollten garantieren, dass sich die Gase in den Aborträumen nicht ausbreiten konnten.167
Auch die Reinigung der Gruben stand bereits bei den Zeitgenossen in der Kritik. Nicht umsonst klagt Ludwig Brandis: „Die gegenwärtig bei der Reinigung meist gebräuchlichen Apparate sind entweder einfache Pumpen oder luftleere Gefäße, beide mit langen Schläuchen versehen. Bei den am meisten üblichen Pumpen werden die Grubenstoffe angesogen und in die Abfuhrtonne gedrückt, ein kleiner Ventillationsofen soll zur Verbrennung übelriechender Gase dienen. Häufig ersparen sich jedoch die Arbeiter die Mühe, den Ofen zu heizen in der Meinung, dass der Segen des Ofens nur gering sei, oder dass es einer Ventillation überhaupt nicht bedürfe. Die Reinigung einer Grube mit Hülfe einer Pumpe dauert oft mehrere Stunden. Während welcher durch den Duft der aufgeführten Stoffe die Athmungsorgane der Passanten und Hausbewohner in der unbarmherzigsten Weise gequält werden.
Die Grubenreiniger sind zudem im allgemeinen wenig zuverlässige Arbeiter, welche mehr als nöthig durch den Genuß von Spirituosen sich zu stärken suchen und welche zu Ausschreitungen geneigt sind. Kein Wunder daher, dass sie ab und zu zur Ersparung von Zeit die Fäcalien nicht dem erhaltenen Auftrage gemäß aus der Stadt fahren, sondern bei der ersten besten Gelegenheit den ganzen Inhalt des Fasses innerhalb des bebauten Stadtgebietes ausschütten, wo derselbe wochenlang die nächste Umgebung belästigt. Im Winter wird die Reinigung noch durch den Frost erschwert. Nur mit Mühe sind die Grubendeckel aufzuheben, die Pumpen frieren ein, sodaß für Wochen die Möglichkeit abgeschnitten ist, die Gruben reinigen zu lassen. In Folge dessen werden viele Gruben übermäßig voll und geben einen Theil ihres Inhalts an benachbarte Keller ab.“168
Vor diesen Hintergründen brachte Ludwig Brandis das System der sogenannten Druckluft-Gruben ins Spiel, die absolut dicht waren, weil sie aus „Eisen“ hergestellt wurden. Diese Gruben konnten so angelegt werden, dass es möglich war, sie von der Straße her zu leeren. Das sollte mit Wagen erfolgen, die mit Druckluftbehältern ausgestattet waren.169
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