Stadterweiterung und Entsorgung
an Rhein und Mosel 4
7. Die Zeit der Stadterweiterungen
Die Konzentration aufstrebender Betriebe in den Städten und die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse durch den Bau der Eisenbahn eröffneten neue, ungeahnte Möglichkeiten. Das Zusammenwirken von Produktion, Handel und Verkehr, das sich vor allem in der Ausdehnung des Schienennetzes sowie der Expansion der Maschinen- und Elektroindustrie äußerte, führte zur Entstehung von Ballungszentren.
Städtebauliche Veränderungen waren allerdings innerhalb der historisch gewachsenen Kernstädte nur bedingt durchführbar. Gelegenheiten zur Lösung des Problems boten Stadterweiterungen nach der Beseitigung der völlig veralteten Befestigungsanlagen. An ihrer Stelle sollten Stadtteile entstehen, die den neuen Verkehrsverhältnissen gerecht wurden. Die Idee, diese Anlagen zu beseitigen, war nicht neu. Bereits im 18. Jahrhundert fielen die Berliner und Mannheimer Befestigungsanlagen, die Fortifikationen in Düsseldorf170, Bremen, Hamburg, Lübeck und Wien (Volksgarten) folgten zwischen 1801 und 1819. Zunächst entstanden nicht nur neue Stadtteile, sondern auch landwirtschaftliche Flächen oder Grüngürtel.171 Dieser frühen Phase schloss sich seit den 1860er-Jahren der Beginn des eigentlichen Urbanisierungsprozesses in Städten und Gemeinden an, wo man es als Befreiung empfand, überkommene Strukturen zu überwinden.172
In Berlin leitete der Bau des preußischen Eisenbahnnetzes die Entwicklung zur Großstadt ein. Bereits 1862 stellte der Baurat James Hobrecht im Auftrage des Prinzregenten Wilhelm für die inzwischen auf 500.000 Einwohner angewachsene preußische Hauptstadt den „Bebauungsplan der Umgebung Berlins“ fertig. Hobrecht ging von Boulevards mit Sternplätzen aus, schuf aber wegen der geplanten breiten Straßen und der tiefen Grundstücke günstige Voraussetzungen für eine dichte Bebauung.
Die detaillierten Planungen zeigten den Spekulanten, wo sie ihr Geld gewinnbringend anlegen konnten. Das bewirkte eine Steigerung der Bodenpreise. Investoren nutzten deshalb die Grundstücke beim Bau ihrer Mietshäuser optimal aus, ohne auf Gesundheit und Bedürfnisse der künftigen Bewohner zu achten. Die Folge: Eine Konzentration möglichst vieler kleiner, dunkler und ungesunder Wohnungen auf dem teueren Baugelände. Ungünstig wirkte sich vor allem die 1853 eingeführte Bauordnung aus, die bei einer Mindeststraßenbreite von 15 Metern keinerlei Höhenbeschränkungen festsetzte. Selbst die Vorschriften für die Hofabmessungen waren minimal. Auch die Bauordnung von 1887 änderte nicht viel. Um die Jahrhundertwende lebten in Berlin 47 Prozent der Bevölkerung in Hinterhäusern.173
Auch in Wien kam es zu schwerwiegenden Eingriffen. Man beschränkte sich nicht nur auf den Bau neuer Ringstraßen, der 1857 begann. Auch bestehende Straßen wurden verbreitert, zahlreiche Durchbrüche ausgeführt. Auf den Wiener Baugrundstücken gab es für die rückwärtig gelegenen Bereiche keine Fluchtlinien. Die Folge war ein Überbauungsgrad bestehender Parzellen bis zu 85 Prozent.
Bessere Wohnbedingungen herrschten dagegen in den schachbrettartig angelegten Erweiterungsgebieten. Dort bemühte man sich um die Schaffung von möglichst vielen zur Straße hin gerichteten Wohnungen, was den Investoren höhere Mieterträge garantierte. Bei dieser Bauweise blieben aber die verschiedenen Nutzungen einzelner Viertel unberücksichtigt. Erst von 1893 an flossen funktionelle Gesichtspunkte in die Stadtplanung ein. Es kam zu einer Differenzierung von Geschäftsvierteln, Arbeitsstättenvierteln und auch von sozial abgestuften Wohnvierteln.174
In Köln begann die Diskussion um eine Stadterweiterung schon 1861. Damals machte man sich über die Verteidigungskraft der alten Fortifikation längst keine Illusionen mehr, denn inzwischen hatte die Militärtechnik derartige Fortschritte erzielt, dass die bestehenden Anlagen für die modernen Geschütze kein Hindernis mehr darstellten. Doch erst 1881 war in Köln eine moderne vorgeschobene Fortkette fertiggestellt worden. Jetzt konnte die Schaffung neuer Viertel beginnen. Die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Erweiterung wurden durch einen städtebaulichen Wettbewerb geschaffen, den Karl Henrici und Joseph Stübben mit ihrem gemeinsamen Plan für sich entschieden. Keiner der 22 eingereichten Vorschläge kam zur Ausführung. Sie dienten lediglich als Anregungen für weitere Konzepte. Die Stadt brauchte jedoch für die Verhandlungen um den Ankauf des militärfiskalischen Geländes eine Planungsgrundlage. Diesen vorläufigen Bebauungsplan legte Wilhelm Willmeroth im Januar 1881 vor. Anschließend begann die Erweiterung Kölns, mit deren Leitung Joseph Stübben beauftragt wurde. Es sollte noch bis 1910 dauern, bis Planungen und Ausbauarbeiten in der Neustadt im Wesentlichen abgeschlossen waren.175
Der systematische Ausbau einer Haupt- und Residenzstadt wird besonders gut am Beispiel Münchens deutlich. Dort nahmen die Könige bereits früh großen Einfluss auf die Planungen. Unter Max I. Joseph (1756–1825) wurden wegen der großen Wohnungsnot Stadterweiterungspläne geschmiedet, und ein erster Generallinienplan wurde erstellt. Unter Ludwig I. (1786–1868) verwirklichten Architekten wie Leo von Klenze (1784–1864) repräsentative Bauten, die auch heute noch die Struktur und das Aussehen der Innenstadt bestimmen. Damit war die Zeit der Umgestaltungen und Erweiterungen längst nicht vorbei. 1854 überschritt München die 100.000-Einwohner-Grenze. Diese Steigerung der Einwohnerzahlen brachte alle für Großstädte typischen Schwierigkeiten mit sich. Neben der Verbesserung der hygienischen Bedingungen erhielt vor allem die Verkehrsplanung Priorität. Dabei orientierte man sich am Pariser Vorbild.176 Für Koblenz als Militär- und Behördenstadt ist der Vergleich mit den Städten interessant, die von der Industrialisierung und der damit verbundenen Bevölkerungsexplosion nur mittelbar betroffen waren. So hatte zum Beispiel Bonn überwiegend eine Bildungs- und Erholungsfunktion. Dies ist auf die einstige landwirtschaftliche Prägung und die 1818 erfolgte Gründung der Universität zurückzuführen.
Trotz der im Gegensatz zu den Wirtschaftszentren eher gemächlichen Entwicklung gab es im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Ansätze für eine Ausdehnung der Stadt über den mittelalterlichen Kern hinaus. 1825 begann man damit, die frühneuzeitlichen Befestigungsanlagen abzutragen. Fünf Jahre später entstanden die ersten Landhäuser. Um die bauliche Entwicklung der Erweiterungsgebiete zu fördern, verschenkte die Stadt sogar Gelände an die Investoren. Obwohl schon 1859 ein Bebauungsplan vorlag, erfolgte die Bebauung der neuen Quartiere aus Kostengründen ohne planerisches Konzept. Allmählich kristallisierten sich zwei größere Bereiche heraus. In der Südstadt investierten vorwiegend die wohlhabenden Schichten. Im Gegensatz dazu stand das nördliche Erweiterungsgebiet. Hier lebten vorwiegend Arbeiter, Handwerker und kleine Angestellte.177
Auch Trier gehört zu den Städten, die am Wirtschaftswachstum des 19. Jahrhunderts nur einen geringen Anteil hatten. Im Gegenteil: Mit dem Verlust des nahe gelegenen Frankreichs als Absatzmarkt machten sich dort nach der preußischen Besitznahme Niedergangserscheinungen bemerkbar. Auch der reichsweite steile Aufwärtstrend der Gründerzeit ging an Trier vorbei. Trotzdem wurde auch hier ab 1875 die Ausdehnung der Stadt notwendig. Die Erweiterung erfolgte ohne planerische Vorgaben. Man beschränkte sich auf die Bebauung bereits vorhandener Feldwege, die verbreitert oder begradigt wurden. 1886/87 setzte in der Stadt an der Mosel eine intensive Bautätigkeit ein, die in den späten 1890er-Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Erst dann ergab sich für die Verwaltung die Notwendigkeit, die Ausdehnung Triers zu steuern. Die vollständige Umsetzung eines Bebauungsplanes scheiterte jedoch am Widerstand der Trierer Bürger.178
Als weiteres Beispiel für die Epoche der Erweiterungen sei Mainz angeführt, das im Gegensatz zu Trier in der französischen Zeit vom Niedergang geprägt war. Zwar erklärten die neuen Herren das traditionsreiche Zentrum am Rhein zur Departementshauptstadt, doch machten sie keine Anstalten, die stark in Mitleidenschaft gezogene Bausubstanz zu erneuern. Alle Planungen blieben im Ansatz stecken. Die schlechte Situation änderte sich auch nicht nach dem Abzug der Truppen Napoleons. Die Stadt fiel jetzt an das Großherzogtum Hessen und wurde eine Festung des deutschen Bundes, die abwechselnd eine preußische und österreichische Besatzung erhielt. Die Wohnsituation verschlechterte sich durch den Neubau von Kasernen und die Einrichtung von Produktionsstätten laufend. 1870 galt Mainz als die am dichtesten besiedelte deutsche Festungsstadt. Ein entscheidender Durchbruch gelang erst nach dem Deutsch-Französischen Krieg, denn 1872 kam es zu vertraglichen Regelungen zwischen der Stadt und dem neu gegründeten Reich. Jetzt erst konnten die Erweiterungsaktivitäten beginnen und die alten Befestigungsanlagen niedergelegt werden.179
Die wenigen Beispiele zeigen, dass die Neuordnung und Erweiterung von Städten nicht zwangsläufig zur Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen führten. Vielerorts trat genau das Gegenteil ein. Die Mängel wurden bereits früh erkannt. Schon 1840 setzte in den deutschen Staaten die Rezeption der englischen und französischen Literatur zur Wohnungsfrage ein. Mit dem „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen“ im unmittelbaren Anschluss an die Berliner Gewerbeausstellung des Deutschen Zollvereins von 1844 bildete sich ein erstes Sprachrohr für die benachteiligten Klassen, das später in „Der Arbeiterfreund“ umbenannt wurde. Diesem neuen Verein stand der protestantische Sozialreformer Victor Aimé Huber nahe, der heute als Begründer der wissenschaftlichen Literatur über die Wohnungsfrage in Deutschland gilt.
Auch der 1873 gegründete und heute noch bestehende Verein für Socialpolitik180 wurde zu einem Sprachrohr für diejenigen, die offen die Zustände im Wohnungswesen anprangerten. In der ersten Phase der Reformbewegung liegen auch die Wurzeln gemeinnütziger Baugesellschaften. Und der Anfang wurde dort gemacht, wo das Wohnungselend am bekanntesten war – in Berlin.181 Von den Zuständen in den großen Städten war man in Koblenz weit entfernt, auch wenn es immer wieder Berichte über Missstände gab. Und so sollte die große Stunde der gemeinnützigen Baugenossenschaften und Siedlervereine, die freilich ganz andere Motive hatten als die ersten Zusammenschlüsse, erst in der Zwischenkriegszeit schlagen.
7.1 Eisenbahn und Wachstum
Auch in Koblenz war der Siegeszug der Eisenbahn das entscheidende Motiv, das Ende der Stadtbefestigung und die Erschließung neuer Stadtteile zu fordern. Bereits 1858 und 1859 dachte man an die Erweiterung des Stadtbezirks, denn inzwischen hatte die neue Bahnlinie am Rhein ihren Betrieb aufgenommen. Innerhalb von Koblenz gab es aber nur für den Personenbahnhof im Bereich der heutigen Fischelstraße (Eisenbahnstraße) ausreichend Platz. Der sich allmählich entwickelnde Geschäftsverkehr war auf den Güterbahnhof im nördlich der Mosel gelegenen Lützelkoblenz angewiesen. Ebendiese Trennung von Personen- und Güterbahnhof war vom preußischen König Wilhelm I. am 12. April 1858 angeordnet worden.182
Der ebenfalls von den preußischen Befestigungsanlagen umgebene heutige Stadtteil bildete damals zusammen mit dem ländlich geprägten Neuendorf einen Gemeindeverband. Ein hoher Prozentsatz der Erwerbstätigen in Lützel war von der Rheinischen Eisenbahn und den sich allmählich ansiedelnden größeren Betrieben abhängig. Deswegen erhoffte man sich hier von einer Vereinigung mit dem wirtschaftlich bedeutenderen Koblenz große Vorteile. Am 7. Januar 1859 beschlossen die Stadtverordneten, ein Gesuch zur Eingliederung des Nachbarortes an die Staatsregierung in Berlin zu richten. Obwohl ein Anschluss Lützels den Bestand der Festung Koblenz nicht gefährdet hätte, verliefen die Verhandlungen im Sande.183
Trotz des Rückschlages in der Eingemeindungsfrage entbrannte in den 1860er-Jahren die Diskussion um die Beseitigung der Befestigungsanlagen erst richtig. Ratsmitglieder und Handelskammer betrachteten die Sprengung des beengenden Festungsgürtels als Minimalvoraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung der Wirtschaft in Koblenz. Durch eine Erweiterung sollte auch der dringend notwendige Platz für neue Häuser geschaffen werden. Doch der Vorstoß brachte nichts.
Das Militär bestätigte zwar den akuten Wohnungsmangel, gab aber zu verstehen, dass „auch die geringsten Hoffnungen als unberechtigt zu bezeichnen“ waren, da weder dem Staat noch der Gemeinde Geldmittel für die Bauarbeiten zur Verfügung standen.184 Auch eine spätere Erweiterungsforderung des Stadtrates vom Januar 1866 beeindruckte das Militär nicht.185 Der geplante Bau der Eisenbahnstrecke Koblenz–Trier ermutigte 1873 Oberbürgermeister Karl-Heinrich Lottner zu einem Versuch, erneut die Erweiterung der Rhein-Mosel-Stadt ins Gespräch zu bringen.186
Dieses Mal unterstützte auch die Koblenzer Bezirksregierung die Absichten der Gemeinde und leitete das Gesuch Lottners an das Kriegs- und das Innenministerium in Berlin weiter. Sie erinnerte an die ohnehin beim Bau der neuen Bahnlinie notwendigen fortifikatorischen Veränderungen, die man mit der Schaffung von neuen Vierteln hätte verbinden können. Gleichzeitig wies die Regierung auf die beschränkten finanziellen Möglichkeiten der Stadt hin und regte zur Verminderung der Kosten die Wiederverwendung von Baumaterialien der alten Befestigungswerke an. Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Vorschläge war neben einer vorläufigen Aufstellung der erforderlichen Mittel vor allem die Überprüfung der Frage, ob eine Hinausrückung der Festungsanlagen aus militärischer Sicht vertreten werden konnte.187
Das Oberpräsidium der Rheinprovinz bewertete den Plan, anstelle zweier unabhängiger Bahnhöfe für die Rheinstrecke und die Linie Koblenz–Trier außerhalb der Befestigungslinien eine zentrale Anlage einzurichten, als eine vorläufig letzte Möglichkeit, das Stadterweiterungsproblem zu lösen.188 Alle Bemühungen blieben vergebens, denn auch dieses Mal änderte die preußische Staatsregierung ihre Haltung nicht. Vor allem Kriegsminister Albrecht Graf von Roon zeigte sich nach Abschluss der Ermittlungen der Ingenieurbehörden von den Nöten der Koblenzer unbeeindruckt. Er war der Meinung, der Mangel an Wohnungen für Offiziere und Beamte mache eine Stadterweiterung nicht notwendig. Nach seiner Ansicht gab es innerhalb der Befestigung noch eine Anzahl elender Baracken, die durch wohnliche Häuser ersetzt werden konnten.189
Zu den Kosten einer möglichen Erweiterung nahmen das Innenministerium sowie das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten in einem Brief an den Oberpräsidenten Dr. Heinrich Moritz Albert von Bardeleben Stellung. In dem Schreiben wurde die für die Durchführung der Erweiterung erforderliche Summe auf zwei Millionen Taler (= sechs Millionen Reichsmark) festgesetzt. Schließlich vergaß man nicht, die Hoffnung einer finanziellen Unterstützung aus den Kassen der Militär- und Eisenbahnverwaltung zunichtezumachen. Der Stadt wurden also alle Kosten aufgebürdet. Der Wert des neu gewonnenen Baugeländes in Höhe von 945.000 Talern hätte die Summe aller Aufwendungen erheblich unterschritten. Unter dem Strich wären auf Koblenz Mehrkosten von über einer Million Taler zugekommen. Diese Berechnung enthielt nicht einmal die entstehenden Entschädigungsleistungen im Falle der Umsetzung der Erweiterungsabsichten. Diese Belastungen konnte die verschuldete Gemeinde nicht tragen. Damit war die Ausdehnung der Rhein-Mosel-Stadt erst einmal vom Tisch.190
Unverändert streng blieben auch die Bestimmungen zur Beschränkung des Grundeigentums und zur Bauausführung. Diese waren im Reichsgesetz vom 21. Dezember 1871, das die Umgebung von Festungen in drei Bezirke (= Rayons) einteilte, neu formuliert worden. In allen Rayons waren folgende Baumaßnahmen nicht ohne Genehmigung der Kommandanturen zulässig:
Die härtesten Beschränkungen galten für den ersten Rayon, der das Terrain im Umkreis von 600 Metern einschloss. Verboten waren:
Mit einer besonderen Erlaubnis der Kommandanturen konnten zum Beispiel hölzerne Windmühlen und untergeordnete Gebäude gebaut werden. Der Genehmigung bedurften auch der Bau beweglicher Feuerungsanlagen, hölzerner und eiserner Einfriedungen oder Brunnen. Weitreichende Beschränkungen stellte der Gesetzgeber für den 375 Meter breiten Geländeabschnitt auf, der sich an die äußerste Grenze des ersten Rayons anschloss. In diesem Bereich mussten sämtliche Bauvorhaben – sogar die Anlage von Friedhöfen und Dampfschornsteinen – von der örtlichen Kommandantur genehmigt werden. Einem vollständigen Verbot unterlagen:
Alle Gebäude sollten nur aus Holz oder einer nach dem Urteil der Militärbehörde leicht zerstörbaren Eisenkonstruktion bestehen. Die Obrigkeit konnte ihre Bauerlaubnis nicht versagen, wenn die Häuser in einer Fachwerkbauweise errichtet wurden. Die ausgemauerten Wände durften allerdings eine Stärke von 15 Zentimetern nicht überschreiten. Ebenfalls zulässig waren die Deckung der Gebäude mit Ziegeln und die Einrichtung von Feuerungsanlagen, deren massive Fundamente das umliegende Terrain um weniger als 30 Zentimeter überragten. Der Gesetzgeber beschränkte die Höhe aller Bauten in diesem Rayon auf maximal 13 Meter. Außerdem ließ man für die Konstruktion von Kellerdecken nur hölzerne oder leichte eiserne Balken mit darüber befindlichen hölzernen Fußböden zu.
Der dritte Abschnitt, für den Beschränkungen galten, umfasste bei allen Festungen das Terrain von der äußersten Grenze des zweiten Rayons bis zu einer Entfernung von 1275 Metern. Hier sollte vor der Umsetzung von Bebauungsplänen die Zustimmung der Reichsrayonkommission vorliegen. Geprüft wurden vor allem Breite und Ausrichtung der Straßen. Doch damit nicht genug: In allen Rayons mussten die Grundstücksbesitzer im Ernstfall mit der Aufforderung der örtlichen Kommandanturen zur Räumung und zum Abbruch ihres Eigentums rechnen.
Paragraph 43 des Reichsrayongesetzes drückt dies folgendermaßen aus: „Wird die Armirung permanenter Befestigungen angeordnet, so sind die Besitzer der innerhalb der Rayons belegenen Grundstücke verpflichtet, der schriftlichen oder öffentlich bekannt gemachten Aufforderung der Kommandantur zur Niederlegung von baulichen oder sonstigen Anlagen, Wegschaffung von Materialien-Vorräthen, Beseitigung von Pflanzungen und Einstellung des Gewerbebetriebes nachzukommen. Wird dieser Aufforderung nicht in der gesetzlichen Frist genügt, so können die Besitzer der betreffenden Grundstücke durch administrative Zwangsmaßregeln hierzu angehalten werden." Eine gewisse Erleichterung für die Bürger brachten die Bestimmungen des Gesetzes über die Zahlung von Entschädigungen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Immerhin war es jetzt den Haus- und Grundeigentümern im dritten Rayon möglich, im Falle des Abbruches baulicher Anlagen einen Ausgleich zu erhalten.
Im ersten und zweiten Rayon hatten die Grundeigentümer schlechte Karten: Sie mussten nicht nur auf finanzielle Zuwendungen verzichten, sondern auch die Kosten für die Beseitigung ihrer Bauten übernehmen.191 Angesichts dieser einschneidenden gesetzlichen Bestimmungen wird verständlich, warum nur wenige in die Errichtung von Gebäuden vor den Toren von Koblenz investierten. Obwohl sich die Reichsgrenze nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 weit nach Westen verschoben hatte, gab es für die jetzt strategisch weniger wichtige Rhein-Mosel-Stadt vorerst keine Lockerung der Bestimmungen.
Die Kenntnis der gesetzlichen Regelungen sowie der Verzögerungstaktiken von Staatsregierung und Militär ist nicht nur für die Entstehungsgeschichte der Südlichen Vorstadt wichtig. Die schleppende Entwicklung der Ausdehnungsmöglichkeiten hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Gestalt der Häuser in der Altstadt. Viele Gebäude wurden in Folge des akuten Wohnungsmangels aufgestockt, erweitert oder in ihrem Grundriss so stark verändert, dass sich ihre ursprüngliche Gestalt nur noch indirekt erschließen lässt. Die Umgestaltungen beantworten auch die Frage, warum in der Koblenzer Kernstadt von den noch verbliebenen barocken und klassizistischen Bürgerhäusern nur ein geringer Teil im ursprünglichen Zustand erhalten ist.
7.2 Das neue Fluchtliniengesetz
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten die Gemeinden wegen der ständig zunehmenden Bauaktivitäten daran interessiert sein, die Erschließung neu geschaffener Straßen und Grundstücke in geordnete Bahnen zu lenken. Bauvorschriften allein reichten zur Förderung einer einheitlichen städtebaulichen und wirtschaftlichen Entwicklung nicht aus, denn sie bezogen sich nur auf das einzelne Objekt: Ein Haus, das alle Anforderungen hinsichtlich Ausführung und Gestaltung erfüllte, konnte ohne Weiteres den späteren Projekten im Wege stehen. Deswegen mussten auf rechtlichem Gebiet die Voraussetzungen geschaffen werden, die den Gemeinden die Ausführung ihrer Planungen sicherten.
Nach und nach entstanden in den deutschen Ländern die dazu erforderlichen Bestimmungen. In Preußen wurden mit dem „Gesetz betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften“ die Weichen gestellt. Dieses Gesetz war am 2. Juli 1875 vom preußischen König unterschrieben worden. Dieses Fluchtliniengesetz, das im Kern bis 1960 gültig blieb, diente als rechtliche Grundlage für die Aufstellung von Bebauungsplänen und später auch für die Beteiligung der Anlieger an den Ausbaukosten.192 Es regelte ferner die Frage der Entschädigung von Grundeigentümern beim Bau neuer Straßen. Schließlich ermöglichte es ein Bauverbot an den Straßen, die noch nicht entsprechend der örtlich geltenden Bebauungspläne ausgebaut waren.193
Im Gegensatz zu den früheren Bestimmungen gab das neue Gesetz den Gemeinden die Möglichkeit, das wilde Bauen innerhalb unfertiger Straßen zu verhindern und die Kosten der Wegebaulast in einem erheblichen Umfang auf die Anlieger abzuwälzen. Die Festsetzung von Fluchtlinien konnte für einzelne Straßen, für Straßenteile oder für größere Grundflächen erfolgen. Für die letztgenannte Möglichkeit wählte der Gesetzgeber die Bezeichnung „Bebauungsplan“. Der Zweck der Festlegung von Fluchtlinien musste immer die Anlegung einer öffentlichen Straße in der „näheren Zukunft“ sein. Die Proforma-Festsetzung neuer Straßenzüge zur Verhinderung baulicher Veränderungen war also unzulässig.194
Die Festsetzung des Fluchtlinienplanes übernahm der Gemeindevorstand. Dieser brauchte die Zustimmung der Gemeindeversammlung und der Ortspolizeibehörde.195 Stimmte man überein, musste der Plan anschließend öffentlich ausgelegt werden. Dies war eine Voraussetzung für die Erlangung der vollen Rechtsgültigkeit. Lagen Einwände der von den Veränderungen Betroffenen oder von Behörden196 vor, wurde über die Streitpunkte verhandelt. Kam eine Einigung nicht zustande, entschied die übergeordnete Instanz. In Koblenz nahm der Bezirksausschuss diese Funktion wahr. Danach hatte der Bebauungsplan endgültig Rechtskraft. Allerdings durften schon während der Offenlegung alle Bauvorhaben, die die äußere Grenze einer geplanten Straße überschritten, nicht mehr genehmigt werden. Diese Beschränkung der Baufreiheit schützte die Gemeinden davor, dass die von den neuen Fluchtlinien Betroffenen durch spätere bauliche Veränderungen den Wert ihres Eigentums und somit auch die Höhe der Entschädigungsleistungen künstlich in die Höhe treiben konnten.197
Obwohl die preußische Gesetzgebung nur die Festsetzung von Straßen- und Baufluchtlinien vorschrieb, sollten Bebauungspläne nicht nur der Förderung geordneter Verkehrsverhältnisse dienen, sondern auch die Schaffung von gesunden Wohnverhältnissen erleichtern. Deshalb wäre es erforderlich gewesen, auch die Grundstücksgrenzen in die Fluchtlinienpläne einzuschließen, um den Bau schiefer und winkliger Häuser zu vermeiden. Doch die Praxis sah anders aus, denn in den meisten Fällen wurden die Parzellen in den Bebauungsplänen nicht berücksichtigt.198
Vielerorts vernachlässigte die Obrigkeit die Kontrolle der Grundstücksaufteilungen. Da oft auch rückwärtige Baufluchtlinien fehlten, waren zu tiefe Baugrundstücke keine Seltenheit. In Koblenz nutzten Verwaltung und Stadtvorstand die Möglichkeiten des neuen Fluchtliniengesetzes, das ja in erster Linie geschaffen worden war, um die Gemeinden vor einer Kostenexplosion bei der Anlage dringend erforderlicher neuer Straßen und Plätze zu bewahren. Die Kommune hatte angesichts ihrer künftigen Erweiterungsabsichten die Möglichkeit, zur Dämpfung späterer Entschädigungsleistungen Baumaßnahmen einfach zu verbieten. Nach den älteren gesetzlichen Bestimmungen wäre dies nicht möglich gewesen, denn vor 1875 mussten die Gemeinden Grundstücke sofort ankaufen oder sich mit den Grundeigentümern gütlich einigen. Dies hätte der Stadt unbezahlbare finanzielle Belastungen gebracht, denn trotz der einschneidenden Rayonbestimmungen gab es Interessenten, die vor den Toren der Stadt Häuser in Leichtbauweise errichten wollten. Vor allem die Einrichtung der Moselbahn und des dazugehörigen außerhalb der Befestigungsanlagen gelegenen Bahnhofs führte zu einer lebhaften Bautätigkeit. In der Löhrchaussee (der Verlängerung der alten Löhrstraße) kam es zur Errichtung von Fachwerkbauten, die „regellos in die Feldmark gestellt“ worden waren und deswegen das Missfallen der Obrigkeit auf sich zogen.199
Diese Gebäude gaben den Anlass zur Schaffung eines Fluchtlinienplanes für den Bezirk vor den Toren. Den am 22. Juni angenommenen und am 12. August 1878 von der Regierung genehmigten Plan erarbeitete Kreisbaumeister Zweck.200 Um künftige überhöhte Entschädigungsleistungen zu vermeiden, brachte die Gemeinde mit dem Ortsstatut vom 17. Juli 1878 jegliche Bautätigkeit im zweiten und dritten Rayon zum Erliegen. Da man es versäumte, bestimmte Bereiche von den Bestimmungen auszuschließen, betraf das Verbot sogar die längst erschlossene Mainzer Chaussee (die spätere Mainzer Straße), an der private Investoren bereits 34 zum Teil herrschaftliche Villen hatten errichten lassen.201
Die Ankündigung der Koblenzer Stadtverwaltung, die Baukosten gemäß den neuen Möglichkeiten des Fluchtlinienrechts für projektierte Straßen anteilig auf die Grundstückseigentümer abzuwälzen, führte schließlich zum vollständigen Erliegen der Bautätigkeit im zweiten und dritten Rayon. Die negativen Auswirkungen des Statuts wurden auch im Stadtrat behandelt. Massive Proteste der Bauwilligen führten zur Überarbeitung der Bestimmungen. Die Verabschiedung des reformierten Ortsstatutes erfolgte am 23. Mai 1881. Fortan war die Errichtung von Häusern auch an noch nicht fertiggestellten Straßen möglich. Dabei mussten aber weitreichende Auflagen erfüllt werden.202
Da das neue Fluchtlinienrecht für private Grundstückseigentümer enorme Nachteile brachte, machten die Gesetzesgegner ihrem Ärger in Wort und Schrift Luft. In Koblenz schrieb ein anonymer Kritiker: „Die Motive des Gesetzentwurfes erklären selbst wiederholt, dass das Gesetz hervorgerufen sei durch das Bedürfnis der großen, rasch aufblühenden Städte, die enormen Kosten für neue Straßenanlagen los zu werden. Wachsen aber die Städte in normaler Weise oder gar abnorm langsam, wie z.B. Coblenz, dann tritt das Bedürfnis neuer Straßen nicht allzu häufig heran; in gesunden Verhältnissen nimmt an den Vortheilen solcher neu entstehender Straßen nicht blos der Bauunternehmer, der Spekulant, der anliegende Grundbesitzer theil, sondern die Gesammtheit; es ist für die Finanzen der Stadtgemeinde alsdann durchaus nicht unerschwinglich, die Kosten neuer Straßenanlagen aufzubringen.“ Eine große Ungerechtigkeit sah der anonyme Verfasser des Aufsatzes darin, dass die Gemeinden als Hauptinteressenten an der Anlage neuer Straßen keine Verpflichtung einzugehen brauchten, irgendeinen Beitrag zu leisten.203
Ungünstig wirkte sich auch die Berechnung der Umlagen aus, denn sie orientierte sich nicht am Grundstückswert, sondern an dem Raum, den die Parzellen zur Straße hin einnahmen. Deswegen kamen die Eigentümer schmaler, aber tiefer Grundstücke bei der Kostenermittlung günstiger davon. Angesichts dieser schlechten Bedingungen schrieb der anonyme Kritiker: „[...] Ein solcher Zustand musste unhaltbar sein, denn Coblenz ist innerhalb der Enceinte ganz bebaut, in einzelnen Regionen übervölkert, für neue Häuser ist kein Raum mehr, es müßten denn gerade die wenigen Gärten und Höfe in der Stadt noch überbaut und die Häuser auf vier, fünf oder mehr Stockwerke gebracht werden. Die Wohnungsnoth hat freilich längst auf diese gefährliche Bahn getrieben. Die Straßen im neueren Stadttheile scheinen dem Vorübergehenden luftig, allein hinter den schönen Häusern findet man vielfach ein solches Gewirr von dumpfen Höfchen und feuchten Wohnungen, ohne genügend Licht- und Luftzutritt, eine solche Zusammenpferchung von Familien auf kleinstem Raum, daß Gesundheit und Sittlichkeit bedenklich gefährdet erscheinen.
Die Miethpreise sind für den Mittelstand und niedere Stände auf eine unerschwingliche Höhe hinaufgeschraubt; der kleine Beamte und Handwerker zumal muß sich auf das allerkläglichste und in wahrhaft bedauernswerter Weise behelfen. So kam es, daß trotz aller Baubeschränkungen durch das Rayongesetz allmählich sehr viele Wohnungen vor den Thoren entstanden, daß Pfaffendorf und Horchheim Vorstädte von Coblenz geworden sind, wo besonders eine Masse in Coblenz stationirter Beamten wohnen. Andererseits leuchtet es ein, daß die Rayonbeschränkungen doch wieder so erheblich sind, daß die Bauthätigkeit vor den Thoren stets nur auf das dringende Bedürfnis beschränkt bleiben wird; das Entstehen ganzer Häuserreihen auf Speculation, wie in Bonn, Düsseldorf, überhaupt in offenen Städten, ist hier außerordentlich erschwert. Und doch ging das ganze Ortsstatut von solchen Voraussetzungen aus, als würden hier sofort z.B. Consortien sich bilden, welche mit Vergnügen die Fertigstellung ganzer Straßen für den Anbau übernehmen würden.“204
Obwohl zunächst keine Aussichten auf die Öffnung der Befestigungsanlagen bestanden, machte man sich in der Stadt im Vertrauen auf die Finanzkraft von Großinvestoren daran, neben der Mainzer Chaussee fünf weitere Straßen für die künftige Vorstadt zu planen. Der Anonymus beschreibt die Folgen der Umsetzung dieses Konzeptes in seiner Streitschrift wie folgt: „[...] Dieses Netz von sechs Straßen beginnt erst 600 Meter vor dem Thor. Man watet also bis so weit durch Feldwege oder Communicationsstraßen und kommt dann mitten im Felde plötzlich an prächtige, breite, gepflasterte, mit Trottoiren, Bordsteinen, Rinnen, Laternen versehene Straßen von 12 bis 20 (!) Meter Breite. Zur Hauptstraße soll der obere Görgenweg werden, welcher auf 20 Meter Breite gebracht wird; beiläufig gesagt, eine Straße, welche nach der Stadt zu nicht einmal gegen ein Thor mündet, sondern an einer ganz versteckten Stelle ins Glacis sich todtläuft. Es kann doch nun nicht gut die Absicht sein, gewissermaßen eine selbständige Stadt draußen zu schaffen, die durch einen kothigen, abends unerleuchteten, häuserleeren Wüstengürtel von 600 Metern streng von der Stadt geschieden ist.“205
Zwar war im Bebauungsplan eine Anbindung des Erweiterungsgebietes an die eigentliche Stadt vorgesehen, doch mussten die Voraussetzungen für eine Realisierung der Verbindungsstraßen erst in langwierigen Verhandlungen geschaffen werden. Solange kein zufriedenstellendes Resultat vorlag, konnte man vom Investitionswillen großer auswärtiger Baugesellschaften nur träumen.
7.3 Das Ende der Stadtbefestigung
Obwohl der Bau der Moseleisenbahn in Koblenz endlich die Verlagerung der Befestigungswerke ermöglichte, verweigerten Militär und zuständige Ministerien in Berlin bereits 1873/74 die finanzielle Unterstützung für die geplanten Erweiterungsmaßnahmen. Trotzdem brach man seitens der Stadt die Verhandlungen nicht ab. Nach den Vorstellungen der Gemeindevertreter sollten aus verkehrstechnischen Gründen die beiden neuen Bahnhöfe zur Bewältigung des Personen- und Güterverkehrs in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt entstehen. Eine Verwirklichung dieses Vorhabens hätte auch neue Chancen für eine begrenzte Stadterweiterung eröffnet.
Im Herbst 1874 lagen bereits fünf verschiedene Pläne zur Anlage der neuen Station vor. Nicht im Sinne der Gemeindevertreter konnte der Vorschlag sein, den neuen Moselbahnhof weit außerhalb am Fuße der Karthause zu bauen. Dieses Projekt stand aber den bestehenden Befestigungsanlagen nicht im Wege und fand auch die Zustimmung der Eisenbahnverwaltung. Eine andere Möglichkeit war die Erweiterung der Stadt zur Aufnahme des Personenbahnhofs und die Auslagerung der Güterabfertigung an die Mosel. Die zusätzlich erforderlichen Mittel zur Realisierung dieser Variante in Höhe von 2,7 Millionen Reichsmark hätte die Kommune tragen müssen.206
Im Mai 1877 lagen insgesamt sieben Projekte vor, deren geschätzte Kosten in die Millionen gingen. Für die Stadtverordneten stellte sich nun die Frage, ob die Gemeinde in der Lage war, für die Erweiterung der Stadt und die Anlage des Personen- und Güterbahnhofes innerhalb des neuen Verteidigungsringes aufzukommen. Als Alternative bestand immer noch die Möglichkeit, den Personenbahnhof innerhalb der bestehenden Befestigungsanlagen zu bauen.207 Keine dieser beiden Lösungen ließ die Stadt wegen der für sie immensen Kosten jemals verwirklichen. Deshalb blieb es beim ursprünglichen Plan, den neuen Moselbahnhof im ersten Rayon vor den Toren von Koblenz anzulegen, ohne eine Stadterweiterung in Angriff zu nehmen.
Das Ende aller Raumprobleme rückte erst in den 1880er- und 1890er-Jahren in greifbare Nähe. Dabei sah es zunächst sehr schlecht aus. Im Januar 1883 unternahm die Handelskammer erneut einen Vorstoß beim Ministerium für Handel und Gewerbe.208 Das Nein aus Berlin ließ nicht lange auf sich warten. Darin hieß es, „dass der nachtheilige Einfluss nicht verkannt werde, welchen die Festungswerke in ihrer gegenwärtigen Gestalt auf die Entwicklung des Handels und Gewerbes in der Stadt Coblenz ausüben, dass man aber gleichwohl Abstand nehmen müsse, den Antrag bei dem Herrn Kriegsminister zu befürworten, da eine Erweiterung der Stadtumwallung sehr erhebliche Kosten verursachen würde und es im hohen Grade zweifelhaft erscheine, ob diese Aufwendungen mit den zu erwartenden Vortheilen in einem richtigen Verhältnis stehen würden. Aber auch hiervon abgesehen könne der Militärverwaltung nicht angesonnen werden, lediglich im Interesse der Stadt Coblenz so bedeutende Aufwendungen zu machen, und ebensowenig könnten die Mittel aus allgemeinen Staatsfonds zur Verfügung gestellt werden, weil es sich in erster Linie um die Förderung städtischer Interessen handele. [...]“209
Eine gewisse Entspannung der Situation trat 1886 ein, als das Berliner Kriegsministerium Koblenz als minderwertige Großfestung einstufte.210 Äußeres Zeichen für diese neuen Entwicklungen zugunsten der Stadt war die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse an den Eingängen zur Stadt.211 Außerdem gaben wiederholte Festungsinspektionen dem Gerücht Nahrung, dass die uneingeschränkte Freigabe der drei Rayons für die Bebauung unmittelbar vor der Tür stand. Allein diese Annahme hatte für eine Belebung des Immobiliengeschäftes in den Bereichen außerhalb der Umwallung gesorgt.212 Ein Durchbruch im wahrsten Sinne des Wortes wurde mit der weitgehenden Beseitigung des Mainzer Tores im Frühjahr 1889 erzielt.213 Es folgten der Abbruch des Weißer Tores und die Niederlegung des Schiffertores. Der Durchbruch des Weißer Tores war vom Kriegsministerium ursprünglich abgelehnt worden. Ein erneuter Vorstoß der Stadt führte schließlich zum Ziel. Die Schaffung einer geeigneten Verbindung in Richtung Moselweiß war vor allem wegen des neuen Schlachthofes außerhalb der Stadt wichtig. Der Grundstein wurde am 5. Juli 1888 gelegt.214
Endgültig frei schien die Bahn für die Erweiterung von Koblenz im Oktober 1889 zu sein, als sich die Militärbehörden zur Aufgabe der Umwallungen längs des Rheines und der Mosel und zum Verkauf des Geländes an die Gemeinde entschlossen. In der Stadt nutzte man die Gunst der Stunde und beauftragte den Kölner Stadtbaumeister Joseph Stübben mit der Erarbeitung eines Entwurfes für den künftigen Bebauungsplan, der die Befestigungsanlagen und das davor liegende Gelände umfasste. Dieses erste Konzept reichte Oberbürgermeister Emil Schüller am 21. Februar 1890 beim Kriegsministerium in Berlin ein und bat um eine Stellungnahme.215 Endlich folgte die erhoffte Reaktion: Am 13. März 1890 verfügte eine „königliche Kabinetts-Ordre“ die gänzliche Aufgabe der Stadtbefestigung. Dieser Beschluss enthielt das Angebot an die Gemeinde, das vom Militär nicht mehr benötigte Gelände zu kaufen. Baubeschränkungen galten nur für den Bereich der weiterhin militärisch genutzten Festungen Konstantin und Alexander auf der Karthause.216
Doch auch nach der uneingeschränkten Freigabe des Festungsgeländes zeigte sich, dass die Vorstellungen von Militär und Stadt über den Wert des Geländes auf der Landseite weit auseinander gingen. Die Verhandlungen liefen daher schleppend, weil die Stadt zunächst nicht über die erforderlichen Mittel verfügte. Die Handwerkskammer zeigte in ihrem Bericht für das Jahr 1891 Verständnis für die schwierige Lage der Kommune und stellte fest: „Der Kranz der Stadtbefestigung ist an der Landseite noch unversehrt, weil die Stadt das fragliche Gelände zu einem Preise ankaufen soll, den sie glaubt nicht bewilligen zu können. Es ist in der That eine harte Zumutung, daß die Stadt für die Befreiung von einer Last, die sie im Interesse des Gemeinwohls so lange getragen hat, noch Geldopfer bringen soll, die ihre wirthschaftliche Kraft gegenüber den anderweitig zu übernehmenden großen Aufgaben auf jeden Fall wesentlich schwächen müssen.“217
Zügiger verlief der Ankauf der Befestigung im Bereich der heutigen Altstadt. Bereits im Verlauf des Jahres 1890 kaufte die Stadt die Anlagen am Rhein- und Moselufer und ließ diese vollständig oder bis auf Brusthöhe einreißen. Weit schwieriger war die Situation für das Gelände südlich und westlich der Umwallungen. Zwar hatte Joseph Stübben in seinem Konzept ein komplettes Wegenetz berücksichtigt, das unmittelbar an die wichtigen Straßen in den älteren Stadtteilen anknüpfte, doch konnte mit den Detailplanungen nicht begonnen werden, weil der künftige Standort neuer Eisenbahneinrichtungen noch nicht feststand. Als Hauptproblem stellte sich der vorgesehene Bau eines Hauptbahnhofes heraus, der Rhein- und Moselbahnhof ablösen sollte.
Erst 1894 einigten sich Stadt und Eisenbahnministerium über den Standort am Fuße der Karthause und den Kostenanteil der Gemeinde.218 Der Vertrag sah weiterhin die Stilllegung der Bahnstrecke Koblenz–Ehrenbreitstein in Richtung Pfaffendorfer Brücke vor. Der Hauptbahnhof wurde 1902 seiner Bestimmung übergeben.
Der Erwerb des ehemaligen Festungsterrains durch die Stadt sollte noch bis 1896 dauern. Dabei deutete ursprünglich alles auf einen früheren Abschluss der Verhandlungen hin. Bereits im Herbst 1892 lag eine Abschätzung vor, die den Preis für das Terrain auf rund 853.000 Mark festlegte. Die Gemeinde erkannte diese Schätzung an. Ein Vertrag kam allerdings nicht zustande, denn Anfang 1893 schloss die Heeresverwaltung angesichts geplanter Truppenvergrößerungen einige Abschnitte vom Verkauf aus. Erst im Herbst 1895 lag ein neuer Vertragsentwurf vor, dem die Stadtverordnetenversammlung am 18. Dezember trotz der enthaltenen Einschränkungen zustimmte. Am 12. März 1896 erfolgte der Abschluss des Kaufvertrages für den Ankauf eines größeren Teiles des angebotenen Festungsgeländes mit einer Fläche von über 20 Hektar. Der in vier Jahresraten zu zahlende Kaufpreis betrug 822.000 Reichsmark.219
Endlich stand einer sinnvollen Angliederung der neuen Vorstadt nichts mehr im Wege. Drei Jahre nach dem Kauf war der größte Teil des Festungsgürtels niedergelegt, und die Straßen waren bis zur Pflasterung vorbereitet. Danach setzte allmählich die Errichtung von Häusern ein.
7.4 Koblenz wächst weiter
Mit der Eingemeindung von Lützel und Neuendorf am 1. Juli 1891 löste Koblenz einen ersten Teil seiner räumlichen Probleme. Für die Neubürger in den beiden Stadtteilen war dieser Schritt nicht nur mit Vorteilen verbunden. Drohte ihnen doch nun eine Erhöhung der kommunalen Abgaben und Gebühren. Kein Wunder, dass die Gefühle in den neuen Stadtteilen gemischt waren. Auf der anderen Seite wussten auch die Kritiker, dass es keine Alternative zur Vereinigung gab.220 Nie hätten die beiden Gemeinden die auf sie zukommenden kostspieligen infrastrukturellen Herausforderungen ohne ein Zusammenwirken mit Koblenz lösen können. Außerdem reichten die engen Beziehungen beider Gemeinden nach Koblenz bis weit ins Mittelalter zurück.
Mit dem Ausbau der Rheineisenbahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Lützel ein Güterbahnhof errichtet, weil es in der vom preußischen Festungsgürtel eingeschnürten heutigen Innenstadt nur Raum für einen Personenbahnhof gab. Die Baumaßnahme sollte einen tief greifenden Strukturwandel einleiten: Die Lützeler Bevölkerung wurde immer mehr vom Erfolg der Eisenbahn und den sich allmählich ansiedelnden Betrieben abhängig. Dieser Wandel passte nicht zur Entwicklung in Neuendorf. Dabei bildete dieser Ort lange einen Gemeindeverband mit Lützel. Nun passte dieses System nicht mehr, die Initiativen der Lützeler Gemeindevertreter, von Neuendorf loszukommen, nahmen zu.
Die Entwicklungen wurden von den Koblenzer Stadtverordneten aufmerksam registriert. Bereits 1858/59 fassten sie eine Erweiterung des Stadtbezirks ins Auge, worauf die zuständigen Ministerien in Berlin jedoch noch nicht eingingen. Erst mit der Aufgabe der strengen Rayonbestimmungen am 13. März 1890 änderte sich die Situation grundlegend. Auch das von der Feste Franz geprägte Lützel blühte auf, die Zahl der Erwerbstätigen stieg binnen fünf Jahren von 393 auf 696. Im April 2007 lebten im Stadtteil genau 7825 Menschen.221
Auch die engen Beziehungen von Koblenz und Moselweiß reichen bis in das Mittelalter zurück. Die Nähe zur Garnisons- und Festungsstadt führten auch im ehemaligen Winzerdorf zu gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen. Da der Verschmelzungsprozess mit der Provinzhauptstadt längst eingesetzt hatte, lag es nahe, eine Eingemeindung anzustreben. Die Initiative ging dieses Mal eindeutig von Moselweiß aus. Dort waren sich die Verantwortlichen darüber im Klaren, dass sie die infrastrukturellen Herausforderungen auf Dauer nicht im Alleingang bewältigen konnten. Dennoch sollte es bis Anfang 1902 dauern, bis die Eingemeindung vollzogen war. Erst der Erlass des preußischen Königs Wilhelm II. vom 6. Januar legte die Vereinigung des Ortes mit Koblenz auf den 1. April fest.
Der Grund für die Verzögerung war nicht bei den staatlichen Institutionen zu suchen, sondern bei den Koblenzer Stadtvätern selbst. Ihre Meinung war geteilt. Angesichts der erforderlichen hohen Investitionen in Lützel und Neuendorf scheuten sich viele, den nächsten Schritt zu gehen. Denn auch in Moselweiß gab es weder eine zentrale Wasserversorgung noch eine Kanalisation. Und in Koblenz selbst waren zu diesem Zeitpunkt die westlichen Stadterweiterungsgebiete noch längst nicht vollständig erschlossen. Diese Argumente spiegeln sich auch im Verwaltungsbericht über das Jahr 1900 wider, in dem Oberbürgermeister Karl Ortmann seine „Bemerkungen betreffend die Eingemeindung von Moselweiß” veröffentlicht.222
Am Ende setzten sich dann doch diejenigen durch, die für eine Eingemeindung plädierten. Die Entscheidung beschleunigte den Wandlungsprozess in der Gemeinde. Prägten einst Landwirtschaft und Weinbau das Dorf, so sind es nun die Krankenhausbauten. Auch in Moselweiß stieg die Bevölkerung schnell. Im März 2007 lebten dort 3096 Menschen.223
Erst die nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommene Diskussion über den Bau eines neuen Industriehafens lenkte die Blicke auf die Landgemeinde Wallersheim und damit auf weitere Eingemeindungen. Die Initiativen der Stadt unter Führung von Dr. Karl-Heinz Russell blieben zunächst erfolglos. Trotzdem wollte der Oberbürgermeister auch noch die Eingemeindung der Nachbarorte Kesselheim und St. Sebastian erreichen. Beide Gemeinden widersetzten sich jedoch erfolgreich ihrer Eingemeindung. Für Wallersheim kam es dagegen anders: Der preußische Landtag verabschiedete am 29. September 1923 ein Gesetz über die Erweiterung des Stadtkreises Koblenz. Die Trennung der Gemeinde vom Landkreis Koblenz war nun offiziell. Trotz dieses großen Erfolgs für den Oberbürgermeister scheiterte der Bau des Rheinhafens, weil das Geld fehlte. Dennoch drängte Karl Russell weiter darauf, möglichst viele Orte aus dem Koblenzer Wirtschaftsgebiet in den Stadtverband einzugliedern. Aus diesen ehrgeizigen Projekten wurde jedoch nichts.224
Erst in der NS-Zeit erhielt Koblenz einen weiteren „Eingemeindungsschub“: 1937 verloren traditionsreiche Gemeinden ihre Selbstständigkeit und wurden in den Stadtverband aufgenommen. Die Rolle von Koblenz wurde im Vergleich zu Trier entscheidend gestärkt. Hintergrund: Koblenz hatte mehr NSDAP-Mitglieder und hatte bei den Wahlen auch bessere Ergebnisse als Trier aufzuweisen, das 1935 noch rund 14.000 Einwohner mehr als Koblenz hatte. Die günstige Situation für die Partei in Koblenz wurde mit der Erhebung der Stadt zur Hauptstadt des Gaus Koblenz-Trier belohnt.
Regierungspräsident Friedrich Turner hatte bereits Ende März 1935 dem Oberbürgermeister Otto Wittgen und Landrat Struve mitgeteilt, dass er im Einvernehmen mit Gauleiter Gustav Simon die Vergrößerung des Stadtgebietes durch Eingemeindungen beabsichtigte. Ausgangspunkt der Überlegungen, die für Koblenz die Ziele der Verwaltungsreform von 1969/70 vorwegnahmen, war die Tatsache, dass Koblenz den alten Rang als Garnisonsstadt zurückerhalten sollte. Mit der endgültigen Militarisierung des Rheinlandes am 7. März 1936 wurden die Dinge beschleunigt. Nach Zustimmung des Reichskriegsministeriums vom 8. April 1937 und dem Erlass des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 21. Juni wurden Ehrenbreitstein, Horchheim, Metternich, Niederberg, Neudorf und Pfaffendorf sowie Parzellen von Urbar und Arzheim am 1. Juli 1937 eingemeindet. Mit der Erweiterung erhöhte sich die Einwohnerzahl von Koblenz schlagartig um 18.153 auf 85.983. Die Stadtfläche vergrößerte sich von 3605 auf 5682 Hektar.225
Unabhängig von den politischen Hintergründen waren die umfassenden Eingemeindungen in der NS-Zeit – wie so häufig – eine logische Konsequenz aus den Strukturveränderungen, die sich im Laufe der Zeit in den früheren Vororten vollzogen hatten. Das beste Beispiel hierfür ist Metternich, dessen Einwohner früher von Acker- und Weinbau lebten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verlor der Ort jedoch seine landwirtschaftliche Prägung, Ziegeleien und eisenverarbeitende Betriebe und auch der Maschinenbau prägten fortan den Ort, der von ursprünglich 526 Einwohnern auf 2530 anwuchs.226 Die Erweiterung des heutigen Stadtteiles in den 1930er-Jahren und später in den 1960er- und 1970er-Jahren brachte einen weiteren Zuwachs. Im August 2006 lebten 9395 Menschen in Metternich (Stand März 2007), das damit nach der Karthause der zweitgrößte Stadtteil ist.227
Auch Horchheim war zum Zeitpunkt der Eingemeindung bereits seit Jahrhunderten im „Sog“ von Koblenz. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Horchheim von der Erschließung des Mittelrheingebietes für den Verkehr hart getroffen: Vor allem der Bau der Eisenbahn veränderte das Gesicht der früheren Bauern- und Winzergemeinde, in der der Weinbau in den 1920er-Jahren endgültig aufgegeben wurde. Im Zuge der Fertigstellung der Horchheimer Eisenbahnbrücke 1879 verloren die Landwirte wichtige Teile nutzbarer Flächen. Schließlich war auch ein profitabler Obstanbau nicht mehr möglich.
Allerdings profitierten die Horchheimer von Koblenz. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt in der Stadt. Ihr Dorf wandelte sich zum Wohnstadtteil, in den es zunehmend höhere Beamte und Offiziere zog. Entwicklungen wie diese sind auch der Grund dafür, warum die Eingemeindungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht zurückgenommen wurden. Der Stadtbezirk von 1937 blieb – trotz des massiven Protestes in Ehrenbreitstein – erhalten. Allerdings kamen lange keine weiteren Stadtteile hinzu, auch wenn 1959 „eine Diskussion über den verwaltungsmäßigen Zusammenschluss der Gemeinden Arzheim, Arenberg, Urbar und Immendorf mit der Stadt zur Schaffung eines zusammenhängenden Verkehrs- und Wirtschaftsgebietes“ geführt wurde.228
Erst mit der rheinland-pfälzischen Verwaltungsreform kam ab 1963 Schwung in die Angelegenheit. Zwischen 1966 und 1974 wurden insgesamt 18 Landesgesetze zur Vereinfachung der Verwaltung verabschiedet.229 Das hatte auch Folgen für Koblenz: Ihre heutige Ausdehnung erhielt die Stadt 1969 und 1970 durch die Eingemeindung von Stolzenfels mit einem kleinen Teil der angrenzenden Rhenser Gemarkung, Kesselheim, Bubenheim, Rübenach, Güls (mit Bisholder), Arenberg (mit Immendorf), Arzheim. Nach der Reform gab es 120.000 Koblenzer – eine Zahl, die nie wieder erreicht wurde. Im September 2007 lebten 106.629 Menschen in der Stadt.230
8. Ingenieur Andrés Kanalisation
Seit der Eröffnung des neuen städtischen Wasserwerks auf dem Oberwerth überschlugen sich die Ereignisse. Da sich die Anzeichen mehrten, dass Koblenz seinen Festungsgürtel perspektivisch verlieren würde, ging man nun auch zügig Planung und Neubau eines Kanalsystems an. Dieses sollte so angelegt werden, dass es der künftigen Stadtentwicklung angepasst werden konnte. Nach einem entsprechenden Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom 31. Oktober 1888 erhielt der Ingenieur Adolf André aus Krefeld den Auftrag, die Vorplanungen zu übernehmen.
Bereits im Mai 1888 hatte der damalige Oberbürgermeister Emil Schüller bei André in Krefeld angefragt, ob er sich vorstellen könne, das geplante Koblenzer Kanalisationsprojekt zu übernehmen. Daraufhin hatte sich der Ingenieur während eines mehrtägigen Aufenthaltes in der Provinzhauptstadt über die örtlichen Gegebenheiten informiert, vorhandene Pläne studiert und mit Unterstützung von Mitarbeitern des Stadtbauamtes Kellertiefen ermittelt. Auf Grundlage des bereits vorhandenen Stadtplans im Maßstab 1:400 entstanden schließlich „eine allgemeine Disposition eines zusammenhängenden Canalnetzes“ in vier Plänen, die der Stadtverordnetenversammlung bereits im November 1888 vorlagen.231
Adolf Andrés Konzept, das völlig unabhängig von der weiteren militärischen Entwicklung der Stadt funktionierte, überzeugte die Gremien so, dass er auch die Ausführung des Projektes übernehmen sollte. Wie es wenige Jahre zuvor Ernst Grahn getan hatte, zog auch André nach Koblenz, wo er sich nicht nur als Ingenieur, sondern auch als Tiefbau-Unternehmer hervortat.232
Adolf André arbeitete zügig, sodass sein Vorbericht bereits im Februar 1889 in gedruckter Form vorlag. Später folgte ein gedruckter Stadtplan im Maßstab 1:1000, der auf Initiative des Ingenieurs entstanden war. In seinem Vorbericht ging es neben einer Bestandsaufnahme vor allem um grundsätzliche Überlegungen zur Konzeption des neuen Kanalsystems. So legte Adolf André besonderen Wert auf eine Untersuchung der Geländeverhältnisse. Galt es doch, für das Projekt die Orte zu ermitteln, an denen das natürliche Gefälle genutzt werden konnte. Für dieses Vorgehen sprachen schon allein finanzielle Gründe. Immerhin hatte das Stadtgebiet innerhalb der Festungswälle eine Größe von 82 Hektar. Und der Ingenieur war sich bewusst, dass er möglichst kostengünstig bauen und gleichzeitig an künftige Erweiterungsmöglichkeiten denken musste. Insgesamt gesehen ging es um ein Areal von 308,60 Hektar.233
Als höchstliegendes Gelände im Arbeitsbereich wurde der Bereich der in den Grenzen der spätantik-frühmittelalterlichen Kastellanlage gelegenen Liebfrauenkirche ermittelt. Er befand sich demnach 74,60 Meter über dem Amsterdamer Pegel. Die anderen Bereiche lagen zwischen 71,60 und 72,60 Meter über dem Amsterdamer Pegel. Die größten Gefälle wurden in den Richtungen Rhein- und Moselufer sowie am Übergang von der Altstadt in die Neustadt im Bereich des heutigen Görresplatzes gemessen. Darüber hinaus lenkte Adolf André seinen Blick auch in die Bereiche südlich und westlich der heutigen Innenstadt. Es ging dabei nicht nur um mögliche Erweiterungen in der nicht kanalisierten Südlichen Vorstadt, sondern eben auch um das Moselweißer Feld. Auch hier galt es, das vorhandene natürliche Gefälle auszunutzen. Allerdings betonte André auch, dass die Kanalisierung vor allem in den südlichen Stadterweiterungsbereichen mit einer Gesamtgröße von etwa 91 Hektar keine Priorität hatte.
„Die Mainzer Landstraße und der Görgenweg sind weitläufig, villenartig angebaut und ihre Entwässerung ist augenblicklich, im Vergleiche zu der der Stadt, von untergeordneter Bedeutung“, heißt es im Bericht wörtlich. Anders sah es im westlichen Stadterweiterungsbereich mit einer Größe von rund 136 Hektar aus, dem Adolf André schon allein wegen der gewerblichen und militärischen Nutzung in diesem Areal eine erheblich höhere Prioritätsstufe zubilligte. Ein Hauptargument war dabei der Bau der neuen Schlachthallen. Und: Auch im Westen der Stadt gab es genügend Möglichkeiten, das natürliche Gefälle auszunutzen. 234
Adolf André nahm bei der Materialzusammenstellung für sein Gutachten auch die bereits vorhandenen Kanäle in der Innenstadt unter die Lupe. Demnach gab es damals in der Stadt neben den oberirdischen Straßenrinnen zwei Hauptkanäle. Der erste Kanal dürfte recht alt gewesen sein und lief in „schlechter Beschaffenheit mit verschiedenartigen Profilen“ unter dem Oberpostamt am heutigen Clemensplatz und mündete im Bereich des Freihafens. Dieser Hafen befand sich ungefähr an der Grenze des heutigen Konrad-Adenauer-Ufers zu den Kaiserin-Augusta-Anlagen.
Der zweite von André beschriebene Kanal entsprach dem 1883 unter Leitung des Stadtbaumeisters Nebel geschaffenen Abschnitt. Dieser entwässerte die Görgenstraße, den Entenpfuhl und die Kornpfortstraße. Er mündete schließlich in die Mosel. „ Letzterer Canal, vor wenigen Jahren aus Cementbeton in Eiform 1,20 + 0,80 hergestellt, entwässert gegenwärtig ein großes Areal der Stadt und muß, da er nach den neuesten Prinzipien der Canalbautechnik ausgeführt wurde, unbedingt in das zu projectirende Canalnetz eingeschaltet werden “, so das Urteil des Ingenieurs, der für den Bereich der Alt- und Innenstadt außer „den erwähnten Hauptcanälen […] noch eine Anzahl kleiner Straßen- und Privatcanäle “ erwähnte.
Dies waren überdeckte Rinnen, die von der Kastorstraße zur Mosel führten und den Uferbereich verunreinigten.235
Bei der Ausführung der Koblenzer Kanalisation wollte Adolf André nach Möglichkeit auf den Bau teurer Abwasserpumpwerke und Dükeranlagen verzichten. Möglich wurde das nicht nur durch die bereits angeführte maximale Ausnutzung der natürlichen Geländegegebenheiten, sondern auch wegen der großen Fließgeschwindigkeiten am Zusammenfluss von Rhein und Mosel. Eine entscheidende Bedeutung hatte deshalb das große Gefälle in Richtung der innenstädtischen Flussufer. „Schon eine oberflächliche Besichtigung der Terrainverhältnisse zeigt, daß die Ausmündungsstelle des ganzen neuen Canalsystems in der am Zusammenflusse des Rheines und der Mosel belegenen Landspitze zu suchen ist, wenn von einer kostspieligen Dückeranlage unter dem Moselbette und Verlängerung des Auslasscanals längs dem jenseitigen Rhein-Ufer abgesehen werden soll“, stellte Adolf André bereits in seinem Vorbericht als unabänderliche Säule seines Konzeptes fest.236
Die an und für sich recht günstigen Geländeverhältnisse konnten von André nicht zur Ausführung durchgehender, kostengünstigerer Kanalabschnitte genutzt werden. Die Festungsgräben machten dies unmöglich. Dazu kam, dass die Mainzer Landstraße (Mainzer Straße) akut hochwassergefährdet war (und auch heute noch ist). Der Ingenieur entschloss sich deshalb, die Entwässerung von Innenstadt und Stadterweiterungsgebieten getrennt zu behandeln. Bei André liest sich das so: „Ich habe demzufolge die Entwässerung der Vorstädte von der eigentlichen Stadt getrennt, das hochgelegene Areal der Stadt in ein besonderes System zusammen gefaßt und die Hauptcanäle der Vororte südlich und westlich durch die tiefer liegenden Rhein- und Moselquais unabhängig von der Stadt nach der projectirten Ausmündung nächst der deutschen Ecke geführt. Dadurch erhalte ich drei Canalsysteme, ein oberes System für die hochgelegene Stadt. [...] Und zwei untere, den Einflüssen des Hochwassers unterworfene Systeme für die außerhalb der Festungswerke gelegenen Areale. [...]
Durch die Trennung wird von selbst erreicht, daß die Canäle der bebauten Stadt ohne Rücksicht auf die […] Vergrößerung in Dimensionen angelegt werden können, welche nur der umwallten Fläche von 82 Hectaren entsprechen, also mäßige Querschnitte erhalten. Aber auch die in den Uferstraßen der Mosel und des Rheines laufenden Hauptcanäle, welche die Entwässerung der Vororte besorgen, können in ihren Dimensionen beschränkt werden, da sie, in unmittelbarer Nähe des Stromes belegen, gegen eine Ueberfüllung bei starken Regengüssen durch Sturmauslässe zu entlasten sind. Sämmtliche Systeme aber umgehen die Festungswerke und sind von deren weiterem Bestehen ganz unabhängig.“237
Von Anfang an war für Adolf André eine entscheidende Frage, wie sein System im Hochwasserfall funktionieren konnte. Er wusste natürlich, dass es in der heutigen Altstadt eine ganze Reihe von neuralgischen Punkten gab. Dies waren vor allem die Kastorstraße und die Moselstraße. Zu den gefährdeten Bereichen gehörte auch das heutige Konrad-Adenauer-Ufer. Die Statistiken zeigten ihm, dass es zwischen 1868 und 1887 fast im Jahresturnus zu Überschwemmungen in verschiedenem Umfang gekommen war. In den meisten Fällen liefen nur die Keller in den tiefer gelegenen Bereichen voll, ohne dass das Wasser die Uferbereiche überschritten hatte. Für den Ingenieur war ganz klar, dass die neue Kanalisation Vorrichtungen brauchte, um sie im Hochwasserfall von der Anbindung an die Flüsse abzuschneiden. Auf diese Weise wollte André gefährliche Rückstaus verhindern. Dies alles bedeutete jedoch, dass im Hochwasserfall Pumpen vorhanden sein mussten, um den Inhalt der Kanalisation auszupumpen. Adolf André war sich bewusst, dass „ein Entwässerungssystem für solche Districte erst dann etwas nützen [kann], wenn das Wasser wieder bis zur Uferhöhe zurück gefallen ist“.238
Oberbürgermeister Emil Schüller stellte in einer handschriftlichen Anmerkung zum Vorbericht Andrés klar: „Ergänzend hierzu habe ich zu bemerken, daß die Tiefenlage der Canäle von durchschnittlich 5 bis 6 Metern unter der Straßenoberfläche nicht, wie von einzelnen Herren irrthümlich angenommen worden sein soll, deßhalb gewünscht ist, um bei Hochwasser die Keller der niederen Stadttheile auspumpen und wasserfrei erhalten zu können, sondern weil nur in dieser Tiefe der Hauptzweck des Canals: die Hausgrundstücke bis zur Kellersohle durch Entwässerung von den in den Abwässern enthaltenen, ansteckenden Stoffen zu befreien, erreicht werden kann. Es liegt auf der Hand, daß ein Canal nichts nutzen kann, welcher die Hausgrundstücke nur theilweise von der schädlichen Flüssigkeit befreit, dagegen die Infectionsstoffe in den unteren Theilen der Kellergeschosse zurück hält und hiervon die Hausmauern durchdringen lässt. Deshalb muß unter allen Umständen der Canal die Tiefe haben, daß er durchschnittlich noch 1 ½ m unter die Kellergeschosse zu liegen kommt. Die Pumpstation […] bildet keinen wesentlichen Bestandteil des Canalisationssystems, sondern soll nur bei Hochwasser erleichterten Wasserabzug verschaffen. Wegen der Durchlässigkeit der Keller in den tieferen Stadttheilen von Coblenz kann die Vorrichtung zum Auspumpen der Keller unbedenklich ausscheiden, ohne daß der Plan und das Canalisationssystem im Uebrigen dadurch geändert werden.“239
Adolf Andrés sorgfältige Überlegungen zeigen, dass es schon aus Gründen des Hochwasserschutzes sinnvoll war, die Koblenzer Kanalisation in drei Systeme zu gliedern, die völlig unabhängig voneinander arbeiten konnten. Zur Verhinderung von Rückstaus wäre es optimal gewesen, den Auslass der Kanäle zu verlängern, um das Abwasser weiter rheinabwärts einzuleiten. Hierfür hätte man aber schon damals einen Düker unter der Mosel bauen müssen, um die Kanäle entsprechend weiterzuführen. Natürlich dachte auch André an diese Alternative, entschied sich aber aus Kostengründen schließlich gegen die Dükervariante. Es musste reichen, den Hauptauslasskanal tief genug in Rhein oder Mosel zu bringen.
In seinen Vorplanungen schlug André vor, auf Höhe des Schwanentores in der Kastorgasse ein eisernes Rohr mit einem Durchmesser von einem Meter auf der Flusssohle rund 30 Meter weit in die Mosel zu führen. Hierdurch wollte der Ingenieur eine optimale Verdünnung der städtischen Abwässer und deren zügigen Abtransport durch die Strömung erreichen. Die Abwasser-Pumpstation sollte dagegen auf dem hochwasserfreien Kastorplatz gebaut werden. Darüber hinaus sollte es einen Schieberschacht mit „eisernen Pumpenröhren“ geben. Mit dieser Anlage konnte die Altstadt-Kanalisation von den Flüssen abgeriegelt und das Abwasser zum Pumpwerk geleitet werden. Die Sohle des Schachtes lag in einer recht großen Tiefe – und zwar auf 60,60 Meter nach dem Amsterdamer Pegel. Diese Tiefe begründete André mit der Notwendigkeit der Kellerentwässerung. Das Pumpwerk hatte natürlich auch die Aufgabe, das Eindringen des Hochwassers in die Keller des Kastorviertels zu verhindern.240
8.1 Das „obere System“
Das „obere System“ Andrés sollte vor allem als gemauerter Hauptkanal vom Kastorplatz zur etwas höher gelegenen Kastorpfaffenstraße und anschließend durch die Karmeliterstraße führen. Von dort aus konnte es zum westlichen Abschnitt des Clemensplatzes und bis zum Neustadt-Rondell weitergehen. Als nächste Station war die östliche Hälfte der Schlossstraße vorgesehen. Von dort sollte der Kanal in die Viktoriastraße einbiegen und über Altlöhrtor und Löhrstraße in die Eisenbahnstraße (heute Fischelstraße) führen. Als vorläufige „Endstation“ war die Weißer Gasse eingeplant. Das „obere System“ sollte unter Ausnutzung des natürlichen Gefälles entstehen, das im Durchschnitt bei 1:680 lag.241 Den Hauptkanal auf dieser Strecke wollte man in der sogenannten „Eiform“ errichten. Im Bereich von Schlossstraße, Neustadt, Clemensplatz, Karmeliterstraße und Kastorpfaffenstraße sollte der Kanal eine Höhe von 1,20 Metern und eine Breite von 80 Zentimetern erhalten, in den anderen Abschnitten konnte dieses Standardmaß unterschritten werden.242
Zu Andrés „oberem System“ gehörte von Anfang an eine zweite gemauerte Kanallinie, die vom Hauptkanal abzweigte und quasi eine Ergänzung zum älteren Kanalabschnitt von 1883 darstellte. Dieser Kanal konnte 1,05 Meter hoch und 70 Zentimeter breit sein. Als Ausgangspunkt war der Übergangsbereich von Viktoriastraße und Görgenstraße vorgesehen, wobei die Gefälle zwischen 1:533 und 1:630 schwanken konnten. Die Kanalstrecke sollte dann über die Magazinstraße über Casinostraße und Gymnasialstraße über den Jesuitenplatz in die Firmungstraße führen. Unter Ausnutzung eines größeren Gefälles von 1:250 und 1:112 konnte es dann weiter zur Rheinstraße gehen, wo die Nebenlinie auf Höhe der Kastorpfaffenstraße in den Hauptkanal münden sollte.243
Dritte Komponente des „oberen Systems“ sollten die Einrichtungen zur Entwässerung der neuen Stadtteile sein. Adolf André meinte damit nicht die entstehende Vorstadt im Süden von Koblenz, sondern den ersten preußischen Stadterweiterungsbereich zwischen Schlossstraße und heutigem Friedrich-Ebert-Ring. Im Bericht ausdrücklich genannt werden die Friedrichstraße, die westliche Schlossstraße, der südliche Teil der Casinostraße und das Löhrrondell. Aufgrund der günstigen Gefälleverhältnisse sollte hier auf die teuren gemauerten Kanäle verzichtet werden.
André begnügte sich mit Steingutröhren, die mit Wasser aus dem Wasserwerk gespült werden konnten. Möglich sollte dies durch den Bau einer Spülgalerie am Löhrrondell werden, die über einen Anschluss an die neue städtische Wasserleitung verfügte. Darüber hinaus sollte in der Löhrstraße auf Höhe der Pfuhlgasse ein Spülschacht gebaut werden. André wählte diesen Standort ganz bewusst. Hier befand sich der höchste Punkt des Straßenzugs, dessen Geschichte bis in die römische Zeit zurückreicht. An der ausgewählten Stelle konnte Regenwasser gesammelt und zum Spülen der Kanäle in den tiefer gelegenen Abschnitten genutzt werden – so zum Beispiel am Endpunkt in der Weißer Gasse oder im Bereich des „unteren Mosel-Systems“.244
Die Kanäle des ganzen „oberen Systems“ sollten mit ihren Sohlen etwa 1,50 Meter unter dem Kellerniveau der Alt- und Innenstadt liegen. Auf diese Weise sollte die Zuführung der Abwässer aus den Häusern durch Leitungen ermöglicht werden. Für das ganze System bedeutete dies, dass es im Durchschnitt fünf bis sechs Meter unter den Straßenoberflächen angelegt werden musste. „Dies läßt sich in keiner Weise umgehen“, betonte Adolf André bereits in seinem Vorbericht.245
8.2. Die „unteren Systeme“
Die von Adolf André konzipierten beiden „unteren Systeme“ hatten die Aufgabe, die Uferbereiche und die Stadterweiterungsgebiete zu entwässern. An erster Stelle nannte der Ingenieur das „untere System längs des Rheinufers“. Ausgangspunkt war wieder der Kastorplatz, in dessen Nähe es ein Auslassrohr mit einem Durchmesser von 1,20 Metern gab. Von dort sollte ein Kanal mit einer Höhe von 1,20 Metern und einer Breite von 80 Zentimetern abzweigen. Das Gefälle war dort mit 1:1000 zunächst relativ gering. Im weiteren Verlauf durch die Rheinzollstraße erhöhte es sich auf 1:540. Von dort konnte ein Kanal zum Rheinufer führen und von dort bis zur Pfaffendorfer Brücke laufen, die damals noch eine Eisenbahnbrücke war.
Direkt dahinter war es vorgesehen, den Kanal „durch einen Sturmauslaß nach dem Rheine“ zu entlasten. Von dort sollte der Kanal schließlich zur „Glacisstraße“ – also in den Bereich des heutigen Friedrich-Ebert-Rings – geleitet werden. Auf dieser Strecke gab André dem Kanal mit einer Höhe von 1,50 Metern und einer Breite von einem Meter beachtliche Dimensionen.246 In der Glacisstraße sollte der Ingenieur auch die Anbindung der Vorstadt beginnen. André schlug vor, einen Kanal mit den Standardmaßen von 1,20 Meter Höhe und 80 Zentimeter Breite durch die Mainzer Straße bis zum Schützenhof zu legen. Mit 1:1000 war das Gefälle auf dieser Strecke nur sehr gering. Im Bereich des Schützenhofes stieg das Gelände jedoch deutlicher an, sodass sich dort ein Gefälle von 1:155 ergab.247
Mit dem Hauptkanal in der Mainzer Straße war es allerdings nicht getan. Auch wenn in der Planungsphase die Bebauung in der Südlichen Vorstadt noch sehr dünn war, erkannte Adolf André, dass der neue Stadtteil einen weiteren Hauptkanal brauchte. Der Ingenieur hatte dafür den Görgenweg vorgesehen und meinte damit die Achse in der Verlängerung von Görgenstraße und Viktoriastraße, die der heutigen Viktoriastraße entsprach. Dort war das Gefälle zur damaligen Zeit etwas stärker als in der Mainzer Straße und erreichte ein Verhältnis zwischen 1:365 und 1:590. Auf jeden Fall sollte der Görgenweg wie der andere projektierte Hauptkanal in der Vorstadt eine Anbindung an den „Sturmauslass“ in den Rheinanlagen erhalten.248
Der zweite Teil des „unteren Systems“ sollte schließlich der Entwässerung des Moselufers und des Kastorviertels dienen. „Der Hauptcanal dieses Systems soll die alten gesundheitswidrigen Einführungen in die Mosel beseitigen, den Betoncanal aus der Kornpfortstraße sowie das Wasser der Altstadt aufnehmen und in seiner Verlängerung das Schlachthaus und das Terrain zwischen Obermoselweißerweg und der Mosel entwässern“, schrieb Adolf André über die Funktion dieses Teilsystems. Dieses sollte im Bereich des Kastorplatzes in den bereits erwähnten Auslasskanal mit seinem Durchmesser von 1,20 Metern einmünden. Auch dieser Kanal musste zwei Absperrschieber haben, um im Kastorviertel und am Moselufer bei Hochwassergefahr einen Rückstau zu verhindern. Bei der Ausführung sollte auch in diesem Fall das Standardmaß von 1,20 Meter Höhe und 80 Zentimeter Breite bei einem sehr moderaten Gefälle zwischen 1:830 und 1:1000 genügen. Endpunkt dieses Kanals war der Judenfriedhof im Rauental (heute Schwerzstraße).249
Relativ unkompliziert war die Einbindung der Nebenstraßen und Gassen. Sie hatten ein günstiges Gefälle, sodass André die Entwässerung in diesen Bereichen über Röhren planen konnte. Bei einer Ausführung der Arbeiten für das untere System rechnete André allerdings mit Schwierigkeiten. Wegen der beengten Verhältnisse in der Kastorstraße und in der Nagelsgasse schlug er die Tunnelbauweise vor. Gleiches galt übrigens für die Karmeliterstraße, den oberen Teil der Firmungstraße, die Altlöhrtorstraße und die Weißer Gasse.250
8.3 Die Ausführung
Die Ausführungen Adolf Andrés waren ein klares Bekenntnis zur Schwemmkanalisation, für die es angesichts der besonderen topografischen Situation keine technisch bessere und vor allem preiswertere Alternative gab. Hermann Salomon fasst die Vorzüge am Koblenzer Beispiel wie folgt zusammen: „Dem Projekte lag das Prinzip des Schwemmsystems zugrunde, wonach alle Schmutzwasser der Häuser an ihren Entstehungspunkten aufgenommen und in unterirdischen Leitungen ohne Unterbrechung und Aufenthalt möglichst rasch abgeführt werden sollen. Diese Schmutzwasser werden dann noch verdünnt durch die gleichzeitige Aufnahme der von den Dächern und Hofflächen sowie den Straßenrinnen zugeführten Regenwasser.
Zur Sicherung des raschen und ungehinderten Abflusses dienen dabei einmal durchgehendes günstiges Sohlengefälle, dann aber auch bei größeren Abflußmengen glatte eiförmige, mit der Spitze nach unten gerichtete Kanalprofile, deren Vorzüge darin bestehen, daß sie durch ihre Verengung nach der Sohle zu dem Minimallaufe des Wassers den geringst benetzten Umfang bieten und die Spülkraft erhöhen, während die Erweiterung des Profils nach oben der vermehrten Wasserzuführung bei starken Regengüssen Rechnung trägt.“251
Ein weiterer Vorzug der Schwemmkanalisation war, dass in bestimmten Abständen Spül- und Stauwehre eingebaut werden konnten. Durch deren Öffnen und Schließen konnte ein starker Spülstrom erzeugt werden. Dieses Verfahren machte in der Regel eine Reinigung von Hand unnötig, zumal man auf Fangvorrichtungen für Grobstoffe nach Möglichkeit verzichten wollte.252
Adolf Andrés Plan wurde in einer seitens der beteiligten Ministerien anberaumten Verhandlung am 15. Mai 1891 einer genauen Erörterung unterzogen und hierbei besonders die Frage eingehend geprüft, ob zur Reinigung des Kanalinhalts Rieselfelder nach dem Berliner oder Freiburger Vorbild253 angelegt oder Anstalten zur mechanischen und chemischen Reinigung der Abwässer errichtet werden könnten. Dabei wurde vom Vertreter der Stadt Koblenz auf die Bodenbeschaffenheit und die unverhältnismäßigen Kosten als Hindernis hingewiesen. Darüber hinaus wies man auf die Fortschwemmung des Kanalinhalts hin, die in der Tat wegen der enormen Wassermenge und der hohen Fließgeschwindigkeit insbesondere des Rheins leicht möglich war.254
Endgültig grünes Licht erhielt die Koblenzer Verwaltung am 13. Oktober 1891 aus Berlin. Das Ministerium des Inneren stellte fest, dass man „mit Rücksicht auf die außerordentlich starke Verdünnung und schnelle Abführung der städtischen Schmutzwässer durch das Rheinwasser, welches [...] in den unterhalb Coblenz am Rhein gelegenen Ortschaften seitens der Anwohner zu Trink- und Wirthschaftszwecken nicht gebraucht wird, sowie in Anbetracht der wenig günstigen Finanzlage der Stadt von der Forderung einer chemischen Reinigung des Kanalinhaltes vor der Einleitung in den Strom “ verzichten wolle. Allerdings machte das Ministerium zur Auflage, den Ausgang des Kanalsystems im Mündungsbereich der Mosel anzubringen. Darüber hinaus war die Stadt verpflichtet, „ausreichende Reinigungsanlagen auf Verlangen der Aufsichtsbehörde herzustellen, sobald sich irgend welche Missstände durch die Einleitung des ungereinigten Kanalinhalts in den Strom ergeben sollten.“ Ferner wollten die Behörden die Fäkalien von den Kanälen fernhalten, um die Verunreinigung des Rheins zu verhindern. Man ordnete die Anlage von Abortgruben und die Einführung eines einheitlichen Abfuhrwesens an. Wasserklosetts durften nur dort eingerichtet werden, wo sich wegen Raummangels Gruben nicht herstellen ließen.255
Die Bedingungen waren ein Kompromiss. Ursprünglich hatte die Obrigkeit vorgeschrieben, zur Entsorgung der Fäkalien Berieselungsfelder anzulegen oder den Inhalt der Abtritte vor der Einleitung in die Flüsse chemisch zu behandeln. Doch die Gemeinden im Regierungsbezirk Koblenz scheuten diesen Schritt. Bereits am 2. Oktober 1890 hatte die Königliche Regierung an das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten Folgendes geschrieben: „[...] die Erfüllung dieser Bedingungen ist bisher an dem Umstande gescheitert, dass die zu solcher Reinigung und Klärung der Fäcalien erforderlichen Anlagen einerseits sehr großen Kostenaufwand erheischen und dass andererseits keines der in Gemeinden anderer Regierungsbezirke angewendeten Reinigungssysteme einen den heutigen wissenschaftlichen Verhältnissen entsprechenden Erfolg aufzuweisen hat. [...]“256
Unter dem Strich konnte man in Koblenz froh sein, dass man erst relativ spät mit der Kanalisierung begonnen hatte, da man – abgesehen von wenigen neueren Einzelkanälen – die Chance nutzte, ein durchdachtes System zu etablieren, das problemlos nachträgliche Erweiterungen ermöglichte. Damit ersparte sich Koblenz eine Menge Ärger, der in anderen Städten an der Tagesordnung war. Die ungeordnet gewachsene Kanalisation, die durch ein zukunftsträchtigeres System ersetzt werden sollte257, entfachte in so mancher Kommune einen regelrechten Glaubenskrieg, an dessen Ende sich die Befürworter der Schwemmkanalisation des Briten William Lindleys durchsetzten. An deren Spitze stand das „Frankfurter Dreigestirn“ mit dem Geheimen Sanitätsrat Gustav Adolf Spieß, seinem Sohn Alexander und dem einflussreichen Arzt Georg Varrentrapp, der in Koblenz kein Unbekannter war.258 Zwischen 1867 und 1877 wurde die Frankfurter Schwemmkanalisation vollendet.259 Gegenüber Koblenz hatte man einen Vorsprung von gut 15 Jahren.
Die endgültige landespolizeiliche Freigabe für ihr ehrgeiziges Projekt erhielt die Stadt Koblenz am 16. Januar 1892 mit der Genehmigung des Regierungspräsidenten Ferdinand von Itzenplitz, der allerdings noch einmal die Bedingungen des zuständigen Ministeriums hervorhob. Demnach durften Kanalwässer nicht in die Mosel, sondern nur am Zusammenfluss am Deutschen Eck mitten in die starke Strömung des Rheins geleitet werden. Schwerer wog die Tatsache, dass sich die Stadt Koblenz nun auch offiziell verpflichten musste, auf Verlangen der Aufsichtsbehörden umfassende Reinigungsanlagen zu errichten, sobald sich durch die Aufnahme des ungereinigten Kanalinhaltes in den Rhein Missstände ergeben würden. Auch galt die Freigabe der Bezirksregierung nur unter Vorbehalt, weil man mit der Planung des Auslasses in den Rhein nicht einverstanden war. Da Adolf André seine Pläne sehr schnell änderte, folgte die endgültige Genehmigung des Koblenzer Regierungspräsidenten bereits am 23. April 1892.260 Die Stadtverordneten reagierten auf die Genehmigung der Bezirksregierung sehr schnell. Bereits in ihrer Sitzung am 28. April 1892 beschlossen sie, sofort folgende Kanäle ausführen zu lassen:
Zur Ausführung dieser Kanäle bewilligte die Versammlung die Aufnahme eines Kredits von 200.000 Mark. Darüber hinaus wurden die Pläne Adolf Andrés endgültig abgesegnet. Am 15. Juni erhielt der Ingenieur auch offiziell den Zuschlag für die Realisierung des Projekts. André hatte für den ersten Bauabschnitt ein Angebot in Höhe von 149.460,58 Mark vorgelegt. Mit dem symbolischen Spatenstich am 1. Juli 1892 begannen schließlich die Bauarbeiten, die erstaunlich schnell Fortschritte machten und – anders als von Adolf André ursprünglich vorgeschlagen – sofort die Südliche Vorstadt einbezogen. Bereits Ende September war der Abschnitt an der Mosel fertiggestellt. Die Strecke vom Zollhafen durch die Neustadt über die Schlossstraße bis zur Viktoriastraße wurde schließlich im ersten Quartal des Jahres 1893 vollendet. Gleiches galt für den Abschnitt der Mainzer Straße bis zur Schenkendorfstraße.262
In ihrer Sitzung am 22. Februar 1893 machten die Stadtverordneten den Weg für die Ausführung des zweiten Bauabschnitt frei. Dazu gehörten:
Zum zweiten Bauabschnitt gehörten insgesamt 1201,65 Meter gemauerte Kanäle. Dazu kamen Rohrkanäle mit einer Gesamtlänge von 2340 Metern. Die Gesamtkosten dieses Abschnitts sollten 130.000 Mark betragen.263 Dieser Ansatz wurde von Adolf André leicht überschritten. Die Kanalbauaktivitäten des Berichtsjahres vom 1. April 1893 bis zum 31. März 1894 kosteten schließlich 137.571,20 Mark. Ein Grund hierfür war, dass der Anteil der gemauerten Kanäle in der Ausführungsphase leicht auf 1219,15 Meter gestiegen war. Der Anteil der Rohrkanäle war allerdings auf 2175,62 Meter gesunken.264 Auch im Berichtsjahr 1894/95 wurde die Kanalisation der Stadt mit großer Energie vorangetrieben. Zu den zahlreichen Maßnahmen in der heutigen Alt- und Innenstadt gehörten:
Wie bereits in Adolf Andrés Vorentwurf geplant, entstand im südlichen Teil des Löhrrondells die geforderte Spülgalerie mit einer Gesamtlänge von 63,50 Metern und einem kreisrunden Querschnitt mit einem Durchmesser von einem Meter. Im Bereich der heutigen Alt- und Innenstadt wurden im Berichtsjahr 1894/95 940,75 Meter gemauerte und 2064,05 Meter Tonrohrkanäle gebaut. Die Herstellung der oben aufgeführten Abschnitte der neuen Koblenzer Kanalisation kostete 97.765,95 Mark.267 Ungeachtet der hohen Investitionen im Innenstadtbereich lief nun auch die Kanalisierung der Südlichen Vorstadt auf Hochtouren. Ebenfalls im Berichtsjahr 1894/95 wurden dort folgende Entwässerungskanäle ausgeführt:
Insgesamt wurden im Vorstadtgebiet 994,85 laufende Meter Tonrohrkanäle zu einem Preis von insgesamt 22.796,90 Mark verlegt. Die Gesamtkosten für das Berichtsjahr 1894/95 betrugen somit 120.562,85 Mark.268 In den folgenden Monaten arbeitete man weiter daran, das System für die Innenstadt und das südliche Stadterweiterungsgebiet voranzutreiben. Auffallend ist, dass die ursprünglich von Adolf André empfohlene Bevorzugung des westlichen Stadterweiterungsgebietes nicht berücksichtigt wurde. Im Bereich des heutigen Rauentals sollte es noch bis weit in die 1920er-Jahre hinein dauern, bis das Problem gelöst war. Ganz offensichtlich legten die Entscheidungsträger zunächst ein Schwergewicht auf die Arbeiten, die zur Verbesserung der Wohnqualität beitrugen. Und so wurde im Berichtsjahr 1895/96 das bereits bestehende Netz weiter verfeinert und ausgebaut. Insgesamt wurden damals 687,80 Meter gemauerte und weitere 1062,90 Meter Tonrohrkanäle realisiert. Investiert wurden 52.538,05 Mark.269 In diesem vierten Bauabschnitt wurden insgesamt folgende Kanäle errichtet:
Bereits 1898 wurde das Kanalnetz so weit vervollständigt, dass alle wesentlichen Teile in der Koblenzer Innenstadt und auch im südlichen Stadterweiterungsgebiet in das neue System eingebunden waren. Zu den realisierten Abschnitten des laufenden Jahres272 gehörten:
In den folgenden Jahren ging es auch um die weiter abseits gelegenen Gebiete der Südlichen Vorstadt. So befasste man sich 1901 erstmals mit der Kanalisierung von Römerstraße und Engelsweg. Zwei Jahre später lagen die ersten Entwürfe vor. Die baureifen Pläne wurden schließlich im August 1904 genehmigt.274
Bis zum 1. Januar 1905 waren Altstadt, Innenstadt und Südliche Vorstadt vollständig an die Kanalisation angebunden. Bis dahin waren insgesamt 11.481 laufende Meter gemauerte Kanäle und 21.148 laufende Meter Rohrkanäle verlegt worden. Die Gesamtsumme von 32.629 Metern verteilte sich wie folgt: In der Altstadt wurden 3781 Meter gemauerte Kanäle und 9061 Meter Rohrkanäle gebaut. Andernorts waren es 7700 Meter gemauerte Kanäle und 12.087 Meter Rohrkanäle.275
Das ganze System wurde, abgesehen von Abweichungen bei den Höhen und Breiten der Kanäle im Großen und Ganzen nach den ursprünglichen Angaben Adolf Andrés gebaut und nach dem Aufgraben der Straßenoberfläche realisiert. Die Sohlentiefen schwankten zwischen vier und sechs Metern, wobei der Durchschnitt in der Altstadt bei rund 5,20 Metern lag. Mit dieser erheblichen Tiefe blieben sie rund 1,50 Meter unter den ermittelten Durchschnittstiefen der Keller. Somit konnten die Hausanschlüsse unter den Kellersohlen angelegt werden, was günstige Gefälle von 1:25 und 1:30 ermöglichte. Wie bereits die Kanalstrecke von 1883 wurde das Koblenzer Kanalsystem mit Material erbaut, das die Firma Dykerhoff & Widmann aus Biebrich lieferte. In welcher Art die Kanäle gebaut werden sollten, hatte Adolf André bereits in seinem Vorbericht festgelegt.276
Die wichtigsten Komponenten der neuen Kanalisation waren die beiden Hauptsammler für das Gebiet der heutigen Innenstadt, die parallel zum Rhein und zur Mosel verliefen. Beide Sammler mündeten schließlich am Deutschen Eck in den Rhein. Zu diesem Zweck war ein Eisenrohr mit einem Querschnitt von 75 Zentimetern angelegt und etwa 35 Meter weit in den Rhein geführt worden. Die günstigen Geländeverhältnisse im Stadtgebiet hatten vor allem den Vorteil, dass das Abwasser nicht künstlich gehoben werden musste. Eine Ausnahme war der äußerste Süden der Stadt. Auf Höhe des ehemaligen Kaltwasserbades Laubach musste das Abwasser künstlich gehoben werden, damit es zum Hauptsammler abfließen konnte.277
Allerdings gab es im Stadtgebiet auch Widrigkeiten, die aber erfolgreich bekämpft wurden. So existierten keine offenen Wasserläufe, die zu Spülzwecken hätten benutzt werden können. Das Problem wurde zum Beispiel durch den Bau von Spülbehältern gelöst, in denen Regenwasser gesammelt wurde. Eine andere Möglichkeit war, das Abwasser der Kanäle selbst zur Spülung zu verwenden.278 In den größeren Kanälen wurden für diesen Zweck seitlich bewegliche Spültüren angebracht. Mit ihrer Hilfe konnte bei Bedarf das Abwasser bis zu einer Höhe von zwei Dritteln des Kanals aufgestaut werden. Durch plötzliches Öffnen erzeugte man einen kräftigen Spülstrom, der in der Regel die Reinigung von Hand überflüssig machte. In den kleineren Kanälen unterhalb einer Höhe von 1,05 Metern wurden Handschieber eingebaut, die von der Straße aus gezogen werden konnten. Im Falle der kleinen Rohrkanäle wurden in den Einstiegsschächten eiserne Rohrklappen mit beweglichen Scharnieren eingebaut. Zur Ventilation wurden Öffnungen im Straßenraum angebracht, die eiserne Gitter schützten.279
Die erste große Kanalisierungsphase der Jahre 1892 bis Anfang 1905 erforderte von der Stadt erhebliche finanzielle Anstrengungen. Sie musste insgesamt 1,134 Millionen Mark aufbringen. Wie im Falle der anderen großen Investitionen dieser Zeit musste die Stadt Koblenz hohe Kredite aufnehmen. So bewilligte die Allgemeine Versorgungsanstalt im Großherzogtum Baden zu Karlsruhe einen Kredit in Höhe von 1,5 Millionen Mark. Das Geld sollte ausschließlich für den Kanalbau und die Restfinanzierung des Schlachthofes ausgegeben werden. Der Tilgungsplan setzte 1895 ein und endete 1935. Voraussetzung für den Vertrag zwischen Stadt und Versorgungsanstalt war die Genehmigung des Bezirksausschusses bei der Königlichen Regierung, der am 4. September 1893 den Weg für das Geschäft frei machte.280
Bereits am Ende der ersten Ausbaustufe war es üblich, auch die Fäkalien in die Kanalisation einzuleiten, obwohl dies zunächst streng verboten worden war. Dies erfolgte über die Klosettfallröhren, die alle über die Dächer geführt wurden, was wiederum zur guten Belüftung der Kanalisation beitrug. Nicht umsonst betont Hermann Salomon in seiner Aufstellung von 1905, dass die neue Kanalisation nirgendwo zu Geruchsbelästigungen führte.281
Wie auch spätere Berichte bestätigen, war die Koblenzer Kanalisation von Anfang an so angelegt worden, dass sie ohne größere Probleme funktionierte. Dennoch hatte man bereits in der Realisierungsphase kräftig nachbessern müssen. So war man im Herbst 1898 gezwungen, zwei größere Schlammfänge im Bereich des „Moseluferkanals“ anzulegen. Grund hierfür war eine Beschwerde der Königlichen Rheinstrom-Bauverwaltung. Die Behörde hatte bereits am 8. August 1895 angemahnt, eine Verunreinigung des Rheinstromes möglichst zu verhindern.282
Die Forderung: Vor dem Hauptauslass am Deutschen Eck sollte ein Schlammfang errichtet werden. Da zu diesem Zeitpunkt das Kaiser-Wilhelm-Denkmal noch nicht fertiggestellt und die Gestaltung des Rheinufers in diesem Abschnitt noch völlig unklar war283, musste die geforderte Maßnahme schließlich um drei Jahre verschoben werden. Bei den Detailplanungen zeigte sich jedoch, „dass der zuerst vorgesehene Platz am Deutschen Eck wegen der mit der Reinigung verbundenen Übelstände und mit Rücksicht auf das in der Nähe befindliche Kaiserdenkmal nicht wohl beibehalten werden könne.“ Man entschied sich schließlich, den Schlammfang weiter moselaufwärts zu verlegen und gleich zwei Anlagen zu errichten. Ein Schlammfang entstand vor der Einmündung des Kornpfortkanals in die Moselstraße und der zweite Fang am Übergang des Altengraben-Kanals am Wolfstor. Durch diese Anordnung sollte der „weiteren Verschlammung des Moseluferkanals, welche sich bis dahin in unangenehmer Weise fühlbar gemacht hatte, vorgebeugt werden.“284
Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Fäkalien in die Kanalisation geleitet wurden, hatte sich gezeigt, dass der Kornpfort- und der Altengrabenkanal „aus den engbebauten und weniger reinlichen Stadtteilen“ dem Sammelkanal am Moselufer große Mengen von Schmutz zuführten. Probleme gab es genau dort, wo das Abwasser mit großem Gefälle aus der Koblenzer Kernstadt kam – an den Übergängen zum bescheideneren Gefälle im Moseluferkanal.285 Erneut war Adolf André gefordert. Der Ingenieur hatte den beiden Schlammfängen eine beachtliche Dimension verliehen. Sie hatten eine Länge von jeweils 12,60 Metern und einen elipsenförmigen Querschnitt mit einer Höhe von 1,80 Metern und einer Breite von 1,50 Metern. Wenn der Schlamm eine gewisse Höhe erreicht hatte, konnten die Schlammfänge ausgebaggert werden.286
Allerdings gab es auch nach diesen Nachbesserungen Betriebsstörungen. So war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts infolge der Vergrößerung des Altstadtmarktes vor allem in der Burgstraße zu Rückstaus gekommen, was sich vor allem bei stärkeren Regenfällen bemerkbar machte. Die Lösung brachte schließlich ein neuer Entlastungskanal durch den Garten der Alten Burg in Richtung Moselwerft.287 Auch in späteren Jahren sollten sich Störungen offenbaren. Dies ist zum Beispiel sehr anschaulich für das Residenzbad in der Kastorpfaffenstraße überliefert. Bei starken Regengüssen liefen die Wassermassen aus dem Kanal oft rückwärts in die Räume der Badeanstalt. So waren an einem Sonntag die Wannen im Kellergeschoss bis zu drei Viertel mit Kanalwasser gefüllt. Das Abwasser war sogar in die Wäscherei eingedrungen.288
Zu den kleineren Störungen im Betrieb kam, dass in Koblenz damals noch erhebliche „Entsorgungslücken“ bestanden. So meldete das Tiefbauamt zwischen dem 7. April und dem 13. November 1931 folgenden Sachstand an die Redaktion des Standardwerks „Die Stadtentwässerung in Deutschland“: „Die Stadt ist bis auf kleine Trennsystemgebiete nach dem Mischsystem kanalisiert. Nur eine Straße und die Villenkolonie auf der Insel Oberwerth haben Trennsystemkanalisation. An die Kanalisation sind zurzeit 66% der Einwohnerzahl [59.000] = rund 39.000 Einwohner angeschlossen. Die Kanalisation ist mit natürlichem und mit fast durchweg sehr gutem Gefälle durchgeführt. Lediglich das Brauchwasser aus Oberwerth und das Abwasser eines kleineren Gebietes im Süden der Stadt werden künstlich angehoben.“289
Auch nach der Vollendung der Kanalisation war es nicht zwangsläufig so, dass sich die sanitären Verhältnisse in den Gebäuden verbesserten. Zwar gab es jetzt fließendes Wasser und eine geordnete Entsorgung des Schmutzwassers, doch fehlten in den älteren Häusern immer noch Badezimmer. Und an vielen Stellen der Altstadt befanden sich die Toiletten nach wie vor in den Innenhöfen. Dort wurden die Fäkalien weiterhin in Gruben geleitet, die hin und wieder geleert wurden. Dennoch war im Laufe der Zeit das Hygienebedürfnis der Bewohner erheblich gestiegen. Es kommt nicht von ungefähr, dass das als Gesellschaft mit beschränkter Haftung geführte „Residenzbad“ in der Kastorpfaffenstraße 8 sehr viel mehr als ein Hallenbad im heutigen Sinne war. Zu der städtischen Einrichtung gesellten sich auch noch private Bäder wie das Augusta-Bad am Kaiserin-Augusta-Ring, mit elektrischen Lichtbädern, „Wannenbädern mit Brausen“, „Sitz- und Dampfbädern mit Wannen“, „Heißluftbädern für einzelne Körperteile“ sowie mit elektrischen Vibrationsmassagen und klassischen Massagen.290
Im Residenzbad selbst gab es Badewannen, Duschen und sogar einen Schankbetrieb.291 Dazu kamen Anlagen für Dampfbäder und Kneipp’sche Bäder. Es gab sogar „elektrische Lichtbäder“ und Massagen sowie eine Halle für sportliche Übungen.292 Und das Schwimmbecken wurde immerhin dreimal wöchentlich mit frischem Wasser gefüllt.293 Keine Frage, dass die Einrichtung nach dem Ersten Weltkrieg auch den Besatzungstruppen zur Verfügung gestellt wurde. Die Amerikaner, die die Verwaltung des Bades dem Christlichen Verein Junger Männer (YMCA) überließen, interessierten sich allerdings mehr für den Sportbetrieb und beanspruchten das Bad dreimal wöchentlich für ihre Zwecke.294 Und die neuen Herren waren anspruchsvoll: Sie bestanden im Juni 1920 auf einer rund 250.000 Mark teuren kompletten Erneuerung der Dampfkesselanlage. Erst nach mehreren Monaten rückten die Amerikaner von dieser Forderung ab. Sie hatten erkannt, dass die erforderlichen Mittel für den Bau eines neuen Kesselhauses nicht vorhanden waren.295
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