Dr. Dr. Reinhard Kallenbach | Landeskundliche Forschung
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6. Stadtansichten


6.1 Koblenz im 16. Jahrhundert


6.1.1 Die älteste Darstellung


Bereits auf gotischen Tafelbildern des 15. Jahrhunderts kann man erkennen, dass die Tradition des goldenen Hintergrundes allmählich verschwindet. Die Künstler gingen zunehmend dazu über, die Tiefenwirkung ihrer Werke durch das Hinzufügen zusätzlicher Motive zu verstärken. In diesem Zusammenhang entstanden die ersten Stadtansichten.1 Diese künstlerischen Entwicklungen der Spätgotik sind auch auf einem Fresko in der ehemaligen Oberweseler Stiftskirche (heute katholische Pfarrkirche Unserer Lieben Frau) gut zu erkennen. Im Hintergrund dieser Bildquelle ist die wohl älteste Ansicht von Koblenz zu sehen. Die Darstellung, die zu einem ausgedehnten Zyklus verschiedener lebensgroßer Heiligenbilder an den Mittelschiffpfeilern der Kirche gehört, datiert in das Jahr 1525.2

 

Das Fresko wurde von Anton Woensam (geboren vor 1500, gestorben um 1541) geschaffen. Das Monogramm „AW” erinnert an diesen Kölner Künstler, der eigentlich überwiegend als Grafiker in Erscheinung trat und für den Buchdruck seiner Heimatstadt eine wichtige Rolle spielte. Von Woensam stammen rund 550 Holzschnitte. Dieser großen Zahl an grafischen Arbeiten stehen nach dem derzeitigen Kenntnisstand lediglich 39 Gemälde gegenüber.


Die Darstellung zeigt die Stadtsilhouette und einige wichtige Gebäude in Koblenz, wie zum Beispiel die Deutschordensniederlassung, die Kastorkirche, die Liebfrauenkirche, die Florinskirche, das Kaufhaus und die Alte Burg.3 Die Hauptabsicht des Malers war es allerdings, die Heiligen Florin, Katharina und Kastor darzustellen. Merkwürdigerweise berücksichtigte er nicht die heilige Maria, deren Himmelskrone sogar Bestandteil des Koblenzer Stadtwappens ist. Im Mittelpunkt des Freskos steht Katharina von Alexandrien mit ihren Attributen Schwert und Rad. Diese Heilige war im 15. und 16. Jahrhundert recht populär. Auch die Koblenzer Kirchen St. Florin, St. Kastor und Liebfrauen besaßen ihr geweihte Altäre.


Die Wiedergabe von Koblenz hatte für den Künstler die Funktion eines schmückenden Beiwerks zur Ausgestaltung des Hintergrundes.4 Deswegen finden wir auch nur eine schematische Darstellung der Moselfront und der wichtigsten Gebäude in der Stadt. Eine gewisse Aussagekraft hat jedoch das Modell der Kastorkirche in den Händen des heiligen Kastor, denn es weicht wesentlich von der heutigen Gestalt des Gotteshauses ab, weil dem eigentlichen Kirchengebäude mit seiner nach Westen ausgerichteten Doppelturmfassade zweistöckige Torbauten vorgelagert sind.5


6.1.2 Sebastian Münsters „Cosmographey”


Der Hebraist und Kosmograf Sebastian Münster (1488–1552) gab seine „Cosmographey” zum ersten Mal im Jahre 1544 heraus.6 Diese Beschreibung der Länder und Städte Deutschlands enthält Beiträge verschiedener Verfasser. Als Vorlagen für die Illustrationen fanden vielfach bereits vorhandene Abbildungen Verwendung. Von „Sonderanfertigungen” kann in den wenigsten Fällen die Rede sein. Diese Feststellung gilt vor allem für den aus dem Jahr 1549 stammenden Holzschnitt von Koblenz.7 Wie aus dem Begleittext in der Auflage des Werkes von 1598 hervorgeht, wurde Erzbischof Johann von Isenburg (1547–1556) um die Übersendung einer Ansicht gebeten.8 Diese Ansicht diente dann als Vorlage für den noch anzufertigenden Holzschnitt. Das ursprüngliche Werk ist heute wohl nicht mehr erhalten. Wir müssen uns mit den Koblenz-Illustrationen aus den verschiedenen Auflagen der Kosmografie begnügen, die in der Beschriftung (Seitenzahl und Kennzeichnung der umliegenden Orte) geringfügig voneinander abweichen. Ein Hinweis auf den Künstlernamen gibt das Monogramm „RMD”. In der lokalen historischen Forschung vertritt man die Ansicht, dass dieses Kürzel für den in Basel und Bern wirkenden Künstler Manuel Deutsch steht.9 Diese Namensangabe ist jedoch unvollständig. Beim Blick in das „Schweizerische Künstler-Lexikon” stellt man fest, dass sowohl der Künstler und Reformator Niklas Manuel Deutsch (1484–1530) als auch sein zweiter Sohn Hans Rudolf Manuel Deutsch (1525–1571) Holzschnitte schufen. Da der Vater seine Werke mit dem Kürzel „NMD” signierte und zur Entstehungszeit der „Cosmographey” schon einige Jahre tot war, scheidet dieser als Urheber des Koblenz-Schnittes aus.10


Es war also der Sohn, der Holzschnitte für die „Cosmographey” schuf und diese mit „HRMD” signierte. Im Falle von Koblenz verzichtete der Künstler auf das „H” und ließ diesen Buchstaben mit dem „M” verschmelzen, was am Querstrich zu erkennen ist.11Bei der Wiedergabe der Stadt Koblenz und der umliegenden Nachbarorte mit Blick aus nördlicher Richtung legte der Grafiker keinen besonderen Wert auf Genauigkeit. Er selbst hat Koblenz wahrscheinlich niemals besucht und dürfte daher von der Richtigkeit der heute nicht mehr existierenden Vorlage ausgegangen sein.


Die Unstimmigkeiten beginnen bereits bei den in der unmittelbaren Koblenzer Umgebung abgebildeten Orten. So sind die Dörfer Neuendorf sowie das benachbarte Wallersheim überhaupt nicht eingetragen. Die Insel Niederwerth und das auf der westlichen Rheinseite gelegene Dorf Kesselheim wurden ein gutes Stück stromaufwärts verschoben. Am östlichen Rheinufer bleiben die zu Füßen der Burgen Ehrenbreitstein und Helfenstein liegenden Siedlungen Mülheim im Tal und Pfaffendorf unbenannt. Dagegen wird das weiter südlich befindliche Dorf Horchheim fälschlicherweise als „Pfaffendorf’ bezeichnet. Auch in späteren Versionen des Holzschnitts wurden die Fehler nicht behoben.12 Zwar ergänzte man die Ortsnamen „Horgen” (= Horchheim) und „Landstein” (= Lahnstein), ließ jedoch die Verwechslungen oder Vertauschungen bestehen.


Zumindest bei der Wiedergabe von Koblenz selbst war der Künstler während der Anfertigung seiner Vorlage bemüht, die ihm bildlich, schriftlich oder mündlich mitgeteilten wichtigsten Merkmale der Stadt hervorzuheben. Zu nennen sind an dieser Stelle die Moselbrücke, die mittelalterliche Stadtmauer mit ihren Toren und Türmen, die Liebfrauenkirche sowie die Stiftskirche St. Florin oder die im Westen der Stadt gelegene Dominikanerkirche. Dagegen lässt die Qualität der Darstellung für die im Ostteil gelegenen Gebäude des Deutschen Ordens und des St. Kastorstiftes zu wünschen übrig. Im Bereich der Kastorgasse ist vor allem die Franziskanerkirche auszumachen, während die dichte Bebauung in diesem Stadtteil lediglich durch eine schematische Wiedergabe der Wohnbauten gekennzeichnet ist. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Stadtmauer ist im sonst unbebauten Südosten von Koblenz das St. Georgskloster im Vogelsang näher zu bestimmen.


Bei der Herstellung des Holzschnittes kam es anscheinend im Wesentlichen auf die Wiedergabe der Landschaft an. Die Dokumentation topografischer Details spielte eine untergeordnete Rolle. Deswegen berücksichtigte der Grafiker das Koblenzer Straßennetz nicht. Somit reicht diese Bildquelle nicht an die Qualität anderer in der „Cosmographey” gezeigten Abbildungen heran.13


Als Beispiel sei der aus dem Jahre 1548 stammende Holzschnitt genannt, der Würzburg und die Festung Marienberg zeigt. Diese Ansicht zeigt dem Betrachter das Stadtbild aus einem Blickwinkel, der eine planartige Darstellung des Wegenetzes erlaubt. Allerdings gibt es auch hier perspektivische Verzerrungen und Falscheintragungen, die vor allem den Verlauf von Nebenstraßen betreffen.14


6.1.3 Das „Städtebuch” von Braun und Hogenberg


Die Koblenz-Darstellung im vom Dechanten Georg Braun (1541–1622) und dem Stecher Franz Hogenberg (1540–1590?)15 1572 in Köln herausgegebenen „Städtebuch” ist eine der beliebtesten Koblenz-Ansichten.16 Der Kupferstich wurde immer wieder gerne kopiert.17 So ist zum Beispiel im „Commentariorum rerum Germanicarum Libri Tres” des Peter Bertius, einem häufig aufgelegten Handbuch zur Deutschlandkunde, eine kolorierte Kopie dieser Grafik zu finden.18


Gegen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden Versionen, die sich nicht mehr genau an die Originalvorlage hielten. Verzerrungen und eine schlechte Wiedergabequalität sind Merkmale dieser Stiche.19 Kennzeichnend für diese „Degenerierung” ist ein Kupferstich, der ein Schiff zeigt, das von Pferden moselabwärts gezogen wird. Dagegen zeigt die Vorlage den Treidelverband in der korrekten Richtung, nämlich stromaufwärts.20


Der Braun/Hogenbergische Originalstich ist die zuverlässigste Bildquelle über die Stadt Koblenz im 16. Jahrhundert. Dennoch gibt es auch auf diesem Kupferstich perspektivisch bedingte Verzeichnungen. Die Fehler werden vor allem an der falschen Anordnung der Liebfrauenkirche und der Florinskirche deutlich. Beim Betrachten eines modernen Katasterplanes stellt man fest, dass sich die Liebfrauenkirche ein Stück weiter westlich befindet als die Stiftskirche. Bei der Darstellung aus dem „Städtebuch” ist jedoch genau das Gegenteil der Fall: Die Florinskirche wurde einfach ein Stück moselaufwärts verschoben. Dieser Umstand ist wahrscheinlich auf den Blickwinkel zurückzuführen, in den sich der Stecher bei der Anfertigung seines Werkes versetzen musste. Wie bereits bei der „Cosmographey” wählte man die Darstellung der Moselfront aus nördlicher Richtung. Dabei wird vorgetäuscht, dass das nördliche Moselufer weit höher liegt als die gegenüberliegende Seite. Es sieht so aus, als hätte der Künstler von einer kleinen Anhöhe auf die Stadt herabgeschaut. Eine solche Erhebung gibt es mit dem Petersberg im heutigen Stadtteil Lützel tatsächlich.

 

Ob die Entwürfe für die Darstellung wirklich auf dem Petersberg entstanden sind, ist heute nur noch schwer nachzuweisen, denn die Errichtung der preußischen Festungsanlagen und moderne Straßenbaumaßnahmen haben das Gelände stark verändert. Trotz ihrer Fehler ist die Grafik jedoch erheblich zuverlässiger als ihre beiden Vorläufer. Diese Feststellung gilt vor allem für die Wiedergabe der nördlichen Stadtmauer mit ihren zum Moselufer führenden Toren und Pforten. Der unregelmäßige Verlauf der Verteidigungsanlagen ist genau zu erkennen.

 

Gut kommen ebenfalls auch die vielen meist giebelständig auf der Stadtmauer aufgeführten Gebäude zur Geltung. Neben den Sakralbauten sind darüber hinaus das Tor auf der Moselbrücke sowie die kurfürstliche Burg mit ihren beiden heute noch vorhandenen Türmen eingetragen. Leider befinden sich auf diesem Stich – wie bereits bei den beiden Vorläufern – keinerlei Hinweise auf die innerstädtischen Straßen und deren Bebauung.21 Zudem enthält die Darstellung keine Details, mit denen sich die Bauweise der Gebäude eindeutig bestimmen ließe. Trotz aller Mängel wollen Bauforscher mithilfe des Stiches beweisen, dass die Koblenzer bereits im 16. Jahrhundert weitgehend zur Steinbauweise übergegangen waren.22 Zwar scheinen reine Fachwerkbauten im Koblenz des 16. Jahrhunderts nicht mehr die Regel gewesen zu sein, doch muss vor einer Überbewertung des Braun/Hogenbergischen Stiches nachdrücklich gewarnt werden, weil viele Details nicht der Realität entsprechen.


6.2 Bildquellen des 17. Jahrhunderts


6.2.1 Hollars Koblenz-Darstellungen


Der aus Prag stammende Grafiker und Reproduktionsstecher Wenzel Hollar arbeitete, nachdem er zuvor in Stuttgart und Straßburg gewirkt hatte, vermutlich 1631 in der Werkstatt Matthäus Merians des Älteren.23 Dort vertiefte er seine Kenntnisse, indem er kartografische und topografische Arbeiten kennenlernte.24 Auch nachdem der Grafiker Frankfurt verlassen hatte, hielten die guten Beziehungen, denn er lieferte weiterhin Vorlagen an Merians Firma. Einige seiner Stadtansichten hat Hollar an Matthäus Merian zur Verwendung in dessen topografischen Werken gesandt. Beiträge des Grafikers fanden in den Merian-Bänden von Westfalen, Hessen, Mainz-Trier-Köln, Bayern und Österreich Berücksichtigung.25


In Köln lernte Hollar 1636 Lord Thomas Howard Arundel kennen, der in diplomatischer Mission auf dem Wege zu Kaiser Ferdinand II. war. Der Engländer nahm den Grafiker als Zeichner in seine Dienste. Auf der siebenmonatigen Reise entlang des Rheines und der Donau nach Wien und Prag führte William Crowne das Tagebuch, während Hollar Skizzen von allen wichtigen Orten anfertigte, an denen die Gruppe mit ihrem Schiff vorbeikam.26 Seine Zeichnungen werden heute überwiegend in die Kategorie von Ansichten eingeordnet, die man unter dem Sammelbegriff „Landschaften mit städtischen oder architektonischen Motiven oder Dominanten” zusammenfassen kann.27 Dies trifft auch auf die meisten Koblenz-Darstellungen zu.


Als Arundels Schiff Koblenz erreichte, beschossen sich die kaiserliche Armee in der Stadt und die in der Festung Ehrenbreitstein eingeschlossenen Franzosen. Folglich ankerte die Reisegruppe solange eine halbe Meile vor der Stadt, bis das Feuer eingestellt wurde, um Lord Ardundel und seinen Begleitern die Durchfahrt zu ermöglichen. Hollar nutzte wahrscheinlich während eines Zwischenstopps vor den Toren der Stadt die Gelegenheit, einige Zeichnungen von Koblenz und Ehrenbreitstein anzufertigen.28


Insgesamt sind heute noch elf Koblenz-Ansichten Hollars (neun Zeichnungen und zwei Radierungen) erhalten.29 Ihre Datierung ist jedoch problematisch, weil der Künstler mehrere Rheinreisen unternommen hat. Deshalb können nicht alle Grafiken 1636 entstanden sein. So datieren wahrscheinlich vier Darstellungen in die Jahre 1632 und 1635, während eine Radierung von Koblenz mit Ehrenbreitstein erst 1643/44 entstand.30


Von besonderem Interesse ist eine Radierung, die die Festung Ehrenbreitstein, die Philippsburg und einen Ausschnitt des Koblenzer Deutschordenshauses (mit Stadtmauer) zeigt. Hollar fertigte sie wahrscheinlich vor 1636 an. Auf der Rheinreise mit Lord Arundel entstand noch einmal eine Zeichnung, die nicht nur das ältere Motiv aufgreift, sondern die Umrisse der Burg Helfenstein und das Reiseschiff hinzufügt. In Merians Topografie werden die Vorlagen wieder aufgegriffen.31 Diese Tatsache lässt darauf schließen, dass auch einige andere Koblenz-Darstellungen Hollars, in denen alle wichtigen Bauwerke der Stadt enthalten waren, im Betrieb Merians als Vorlage dienten. Vielleicht wurden mehrere, heute nur noch zum Teil erhaltene Zeichnungen oder Radierungen in der Merian-Werkstatt als Bildquellen verwendet. Wie wir noch sehen werden, kam es dort zu einer Reihe von Irrtümern, sodass der aus der Topografie stammende Koblenz-Stich nur in wenigen Punkten der Realität entsprach.


Im Unterschied zu den bekannten Vorlagen Hollars werden hier die städtischen Straßen und eine große Zahl von Bürgerhäusern wiedergegeben. Von wem diese detaillierteren zeichnerischen Angaben über das Wegenetz stammen, ist derzeit unbekannt.


6.2.2 Merians „Topographia”


Die wohl bekannteste frühneuzeitliche Koblenzdarstellung ist im 1646 erschienenen siebten Teil der „Topographia Germaniae” zu finden.32 Der Kupferstecher Matthäus Merlan, der Ältere (1593–1650), gab dieses 50-bändige Monumentalwerk zusammen mit Martin Zeiller heraus. Es enthält mehr als 2.000 Kupferstiche von Stadtansichten, -planen und einzelnen Bauwerken. Die Illustrationen gehen jedoch nur zum kleinsten Teil auf Originalvorlagen zurück.33


Die Bildquelle zeigt Koblenz während der Beschießung durch schwedische Truppen im Sommer 1632. Da die Stadt im Kriegszustand festgehalten wird, liegt auf den ersten Blick eine Datierung der Vorlage noch vor die Entstehungszeit der „Topographia Germaniae” nahe. Obwohl die Abbildung in der historischen Buchvorlage unsigniert ist, nimmt man in Koblenz an, dass die Grafik aus den Händen Merians stammt. Immer wieder wird deshalb der Stich unkommentiert in den heimatkundlichen Schriften abgebildet. Dabei ist die Zuweisung an Merian nicht gesichert. Gleiches gilt für die Datierung. Im Allgemeinen wird die Entstehungszeit der Grafik um das Jahr 1632 angesiedelt. Bislang hat sich in Koblenz noch niemand näher mit den historischen Stadtansichten auseinandergesetzt. Dabei ist eine kritische Untersuchung gerade im Falle der „Topographia” sowie den im Mittelrhein-Museum befindlichen „Merian-Einzelblättern” dringend notwendig.34


Die Tatsache, dass die Stadt Koblenz im Kriegszustand zu sehen ist, könnte ein Hinweis für eine Frühdatierung des Stiches sein.35 Merian selbst war in mehreren deutschen Städten Zeuge der Verheerungen des 30jährigen Krieges geworden und hatte frühzeitig mit der Dokumentation der Ereignisse begonnen. Ein Teil seiner Stiche erschien bereits 1635 in dem von ihm herausgegebenen „Theatrum Europaeum”, einem umfassenden Bilddokument der damaligen Zeitgeschichte. Möglicherweise ist zur damaligen Zeit auch die Stadtansicht von Koblenz entstanden.


Denkbar wäre auch, dass Merian und/oder einer seiner Schüler den Kupferstich zu einem späteren Zeitpunkt nach verschiedenen – heute teilweise verschollenen –zeichnerischen Vorlagen angefertigt haben, ohne selbst jemals in Koblenz gewesen zu sein. Ähnlich war er bei der Anfertigung eines Stiches von der Belagerung der Stadt Prag verfahren.


Von besonderer Wichtigkeit für den Koblenz-Kupferstich ist die Auswahl des Blickwinkels. Koblenz wird, der damaligen Mode entsprechend, aus der Vogelperspektive gezeigt. Diese Betrachtungsweise hatte sowohl für den Zeichner als auch für den Kupferstecher den Vorteil, dass die Vorzüge eines Grundrisses mit der Anschaulichkeit einer Stadtansicht verbunden werden konnten. Deshalb musste sich der Künstler in einen Ausgangspunkt hineinversetzen, den es in Wirklichkeit gar nicht gab. Das führte bei der grafischen Umsetzung zwangsläufig zu Verzeichnungen.36 Im Falle von Koblenz wäre die Festung Ehrenbreitstein als Aussichtspunkt eine Alternative gewesen. Diese Perspektive hätte jedoch den Nachteil einer Abbildung der Stadt von der Rheinseite her gehabt. Da der Graphiker aber einen möglichst großen Überblick geben wollte, musste er einen anderen Blickwinkel wählen, denn der Schwerpunkt von Koblenz lag damals noch an der Mosel.


Die Qualität der Wiedergabe der unmittelbar im Zusammenhang mit der moselseitigen Stadtmauer stehenden Gebäude erinnert stark an den Braun/Hogenbergschen Stich. Sowohl die Alte Burg als auch das Kaufhaus sind gut zu erkennen. Dagegen ist die Darstellung der Straßen und Gebäude im Inneren des Mauerringes meistens unzutreffend. Die Unstimmigkeiten beginnen schon bei der Wiedergabe der Florinskirche und der Liebfrauenkirche, deren Anordnung zueinander nicht annähernd mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Auch das dargestellte Straßennetz spiegelt kaum die tatsächlichen Verhältnisse in Alt-Koblenz wider. So verschob der Stecher die Achse Judengasse-Löhrstraße ein gutes Stück nach Westen, während die damals schon vorhandene Straße „An der Moselbrücke” erst gar nicht eingezeichnet wurde. Aus diesem Grunde scheint die Weißer Gasse eine Nebenstraße der Judengasse zu sein. Die auf der östlichen Seite der Löhrstraße abbiegende Pfuhlgasse verläuft auf dem Kupferstich gekrümmt. Eigentlich hatte die Straße eine geradlinige Trassenführung. Eine ähnliche Aussage lässt sich auch für die Rheingasse machen.


Auf der Stadtansicht bilden Juden-, Hühner- und Holtzergasse ein fast rechtwinkliges Dreieck. Diese falsche Darstellung bedingt, dass sich der Florinsmarkt auf der Südseite der gleichnamigen Stiftskirche und nicht unmittelbar davor befindet. Die dichte Bebauung vor der Liebfrauenkirche dürfte ebenfalls in keiner Weise dem tatsächlichen historischen Stadtbild ähneln, weil in diesem Bereich von alters her der Friedhof der Pfarrkirche lag.


Auch der ehemalige Stadtgraben ist unzutreffend wiedergegeben. Er beginnt erst am Ausgang der Görgenstraße, führt dann weiter an der Südseite der Liebfrauenkirche entlang und geht dann in den Kornmarkt (heute Entenpfuhl) über, an dessen Stelle sich fälschlicherweise die Sternpforte befindet. Die Kornpforte selbst ist ein gutes Stück weiter östlich gelegen (also auf Höhe des Franziskanerklosters).


Die in West-Ost-Richtung verlaufende Firmung hat zugunsten des Grabens erheblich an Länge eingebüßt. Wichtige Plätze und Gebäude wie der Plan, das Jesuitenkolleg oder der Vorläufer des heutigen Hauses Metternich werden erst gar nicht berücksichtigt. Dagegen wurde parallel zur Rheingasse (vor dem Krieg Balduinstraße) ein Straßenzug eingezeichnet, der sich auch durch einen Vergleich mit den Stadtplänen des ausgehenden 17. Jahrhunderts nicht näher bestimmen lässt. Hinzu kommt, dass die auf der Ansicht dargestellte dichte Bebauung im Bereich der Liebfrauenkirche und der Florinskirche die Gemüsegasse, die Mehlgasse und die Florinspfaffengasse verdeckt.


Noch unzuverlässiger ist der „Merian-Stich” bei der Wiedergabe der einzelnen Häuser. Abgesehen von den Sakralbauten werden nur rund 300 Gebäude angedeutet. Ein aus der Zeit um 1560 stammendes Verzeichnis gibt für Koblenz jedoch 674 Haushalte an. Nicht erwähnt werden die leer stehenden Gebäude und die Bauten im Besitz der geistlichen Korporationen. Zwar kann man die Gesamtzahl der Feuerstellen nicht mit der tatsächlichen Anzahl der Häuser gleichsetzen, doch ist davon auszugehen, dass es in Wirklichkeit weit mehr Häuser in der Stadt gegeben hat. Bei der Anfertigung der zeichnerischen Vorlage ging es nämlich nicht um eine größtmögliche Genauigkeit, sondern nur um die Abbildung wichtiger Details.37


Der Grafiker scheint im Falle von Koblenz die Wiedergabegenauigkeit seinen künstlerischen Absichten untergeordnet zu haben. Diese These wird dadurch bestätigt, dass der Ort Lützelkoblenz und die Moselbrücke, die auf der Ansicht nicht von den Schweden bedrängt werden, besonders groß gezeigt werden. Ähnliches lässt sich für die Westseite der Stadt sagen.38 Hier befinden sich der Ochsenturm und vor allem die neu erbaute Schanze, welche die damals recht schwachen Befestigungsanlagen in diesem Abschnitt wesentlich verstärkten.


Ochsenturm und Schanze werden somit zum Symbol des Widerstandes gegen die Schweden. Wie klein und undeutlich erscheint dagegen der Südteil der Stadt, der der drückenden Überlegenheit der Belagerer fast wehrlos ausgeliefert ist. Der unbedrängte Norden und der stark befestigte Westabschnitt werden damit zum Sinnbild der Hoffnung für Koblenz.39
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Anmerkungen:


1 Wacha, Stadtansichten, S. 36.
2 Vgl. Dehio, Handbuch, S. 773: Der Zyklus wurde im 19. Jahrhundert verändert.
3 Das Fresko ist abgebildet in: Prößler, Topographie, S. 17; vgl. auch die Beschreibung in: Große Leute – Kleine Leute, S. 24.
4 Abgebildet sind neben der Stadtsilhouette der Ort Mülheim im Tal (die spätere Residenzstadt Ehrenbreitstein), die Burgen Ehrenbreitstein und Helfenstein sowie das Kloster auf dem Beatusberg.
5 Eine Aufstellung der sonstigen frühen Bildquellen zur Kastorkirche bringt: Michel, Kirchliche Denkmäler, S. 154.
6 Vgl. Buch und Bild, Nr. 26, S. 88: Allein im 16. Jahrhundert erschienen von Münsters „Cosmographey” beim Erstverleger Henricpetri 18 deutsche, sechs lateinische, fünf französische und zwei italienische Auflagen. In Koblenz können die Auflagen von 1574 (Stadtbibliothek) und 1598 (Landeshauptarchiv) eingesehen werden.
7 LHA Ko, Best. 702, Nr. 57: Einzelblatt aus einer älteren Auflage der „Cosmographey”; vgl. MM, G 1967/235, Ma 69 (klein); MM, G 1967/33; MM, G 1967/96; MM G 266c; Koblenz-Holzschnitt aus der Auflage von 1574 (S. 616/617).
8 Vgl. Münster, Cosmographey, S. 721/722: „[...] Sie ist mir zugeschickt durch den Hochwirdigen und Durchleuchtigsten Fürsten und Heren/Herr Johann Graffe zu Isenburg/Ertzbischoffen zu Trier [...]“
9 Zuletzt in: Große Leute – Kleine Leute, S. 25. Angegeben sind die Lebensdaten des Sohnes Hans Manuel Rudolf Deutsch.
10 Schweizerisches Künstler-Lexikon, Bd. 2. Werkverzeichnis, S. 313–319.
11 Zu Hans Rudolf Manuel Deutsch: Schweizerisches Künstler-Lexikon, S. 319–321.
12 Vgl. MM, G 1967/235, Ma 69 (klein).
13 Vgl. MM, G 207 und 224, Ma 10 (klein): Der Holzschnitt aus der „Cosmographey” wurde auch später noch nachgeahmt, weil er die reizvolle Rheinlandschaft gut in Szene setzt. Beispiel für diese Feststellung ist der Kupferstich aus dem „Thesaurus philosophicus”, auch „Politisches Schatzkästchen” genannt (vgl. Abb. 6.2). Das 1623 veröffentlichte Werk wurde vom Frankfurter Kupferstecher Eberhard Kiesner und dem „poeta laureatus”Daniel Meisner geschaffen (vgl. Meisner/Kiesner, Politisches Schatzkästchen, S. 9).
14 Seberich, Topographischer Gehalt, S. 195–199.
15 Geissler, Zeichnung, S. 81 und 84; Vey, Augustin Braun, S. 165: Bekannter ist der Künstler Augustin Braun (1570–1639?), Bruder des Kölner Dechanten Georg Braun. Franz Hogenberg war Sohn des aus München stammenden, später in die Niederlande ausgewanderten Malers und Stechers Nikolaus Hogenberg. Er war zusammen mit Georg Hoefnagel und Simon Novellamus auch als Mitherausgeber maßgeblich an der Schaffung des „Städtebuchs” beteiligt. Nach seinem Tod setzte sein Sohn Abraham die Arbeit fort.
16 Braun/Hogenberg, Städtebuch („Beschreibung und Contrafactur der vornembster Staet der Welt”). In der Koblenzer Stadtbibliothek befindet sich die Ausgabe von 1574.
17 MM, G 145, Ma 7 (klein); MM, G 226d und 228c, Ma 10 (klein); MM, G 1967/208 und 209, Ma 68 (klein). Weitere Varianten sind: MM, G 226b und 228a, Ma 10 (klein); MM, G 1468, Ma 43 (klein); MM, G 1967/243, Ma 69 (klein). Im Vordergrund dieser einander stark ähnelnden Stiche befindet sich mehr Gelände. Außerdem ist ein Reiter dargestellt. MM, G 1450, Ma 42 (klein). Diese nach der Mitte des 17. Jahrhunderts von Abraham Aubry (in Straßburg, Nürnberg und Köln tätig) angefertigte Variante orientiert sich zwar weitgehend an der Vorlage, ist aber von einer Scheinarchitektur umrahmt.
18 Bertius, Commentariorum (Auflage von 1616); Buch und Bild, S. 94.
19 M, G 219, Ma 10 (klein); MM, G 227, Ma 10 (klein) und MM, G 1967/205, Ma 68 (klein): Zwei identische Kupferstiche mit lateinischem Begleittext.
20 MM, G 145b und 1967/267: Kupferstiche aus der Zeitschrift „Universus Terrarum Orbis”. MM, G 145a: ähnliche Version des Stiches (vgl. Große Leute – Kleine Leute, S. 25).
21 Die Darstellung einzelner Stadtsilhouetten ist das beliebteste Motiv bei Braun und Hogenberg (vgl. die Ansichten von Marburg, Kassel, Mainz und Speyer). Die Wiedergabe des Straßennetzes ist weniger häufig (vgl. die Abbildungen von Magdeburg, Straßburg, Frankfurt und Würzburg).
22 Vgl. Nebel, Fachwerkbauten, S. 79.
23 Vgl. Urzidil, Wenceslaus Hollar, S. 35: Die ältere Forschung ging davon aus, dass Hollar zwischen 1627 und 1629 bei Merian gearbeitet hatte.
24 Kesnerovä, Wenzel Hollar, S. 9: Die neuere Datierung des Aufenthalts Hollars in Merians Werkstatt ist keineswegs sicher, weil bislang keine das Jahr 1631 datierende Zeichnung des Grafikers bekannt ist.
25 Denkstein, Wenzel Hollar, S. 19 und 35; Hollar, Radierungen, S. 8.
26 Denkstein, Wenzel Hollar, S. 10 und 19; Hollar, Radierungen, S. 6: Bereits 1632 hatte Hollar von Mainz aus eine erste Rheinreise unternommen und eine Reihe von Zeichnungen angefertigt.
27 Kesenerovä, Wenzel Hollar, S. 9.
28 Suhr, Die Mission, S. 20.
29 Hollar, Reisebilder, S. 71-73 (Katalog): Beschreibung der Stadtansichten.
30 Bei den aus dem Jahre 1635 stammenden Grafiken ist auch eine spätere Entstehungszeit (Mai 1636) möglich. Vielleicht hat Hollar selbst irrtümlich das falsche Datum eingetragen.
31 Hollar, Reisebilder, S. 72 (Katalog).
32 Merian, Topographia, Ansicht zwischen den Seiten 46 und 47. Text: „Abbildung der Statt Cobolentz, und wie selbige von den Schwedischen belagert und eingenohmen worden. 1632″.
33 Vgl. Geissler, Zeichnung, S 69; Buch und Bild, Nr. 33, S. 96.
34 Vgl. MM, G 197, Ma 9; MM, G 1452, Ma 42 (klein); MM, Ma 2 (mi): Einzelblätter, genau den Abbildungen in Merians „Topographia” entsprechend. MM, G 204, Ma 10 (klein): Mit den anderen Stichen eng verwandte, wohl nachträglich angefertigte Grafik, jedoch ohne Textleiste. Am Kopf der Darstellung befindet sich der Schriftzug „Belagerung der Statt Cobolentz”. MM, G 206, Ma 10 (klein): Diese Version des „Merian-Stiches” fertigte der Augsburger Silberstecher Johann Jakob Senfftel (um 1664-1729) an. Er entspricht den älteren Vorlagen. Auf die Textleiste wurde aber verzichtet. Nur der Stadtname „Cobolentz” ist zu lesen.
35 Vgl. MM, G 142, Ma 7; MM, G 197a, Ma 9; MM, G 200, Ma 9; MM, G 210, Ma 10 (klein); MM, G 217, Ma 10 (klein); MM, G 222a, Ma 10 (klein); MM, G 222b: Diese Varianten des „Merian-Stiches” zeigen die Stadt im Friedenszustand. Die Grafiken sind undatiert. Es liegt jedoch der Schluss nahe, dass sie nach der „Kriegsversion” entstanden sind. Für diese Vermutung spricht auch die schlechtere Qualität der Stiche.
36 Reinmann, Stadtbild, S. 11.
37 StAK, Best. 623, Nr. 2895. Text: „Der Statt Coblentz feurstele, ane der Prelaten und Geistlichen Haus und die Heuser so unbewonet und verfallen leyen 674 – Under derselbigen werden vier und Zwentzig Heuser und feurstele doppel bewonet, da die Eiteren Ire Kinde zu sich bestadet oder die Kinder Ire eiteren erzihe und bey sich wonen haben [...]” Die Erläuterungen sagen nichts über die Mehrfachanordnung von Feuerstellen in den einzelnen Häusern aus. Der Text nennt lediglich die doppelt belegten Wohneinheiten mit nur einer Feuerstelle.
38 Als Beweis für diese Konzentration im Westen ist die Lage der Florinskirche besonders gut geeignet. Auf dem Merian-Stich befindet sie sich fast auf gleicher Höhe mit der Alten Burg. In Wirklichkeit aber sind die beiden Gebäude rund 200 Meter voneinander entfernt!
39 Vgl. MM, G 1464, Ma 43 (klein); MM, G 205, Ma 10 (klein): Vom Ende des 17. bis Anfang des 19. Jahrhunderts wurden am Merian-Stich orientierte, fast identische Radierungen und Stahlstiche geschaffen (vgl. Abb. 6.5). Die Qualität der Bildquellen ist wegen der schematischen Wiedergabe der Gebäude in der Stadt erheblich schlechter. Dennoch fertigte man Anfang des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage dieser Radierungen einen Stahlstich an – vgl. MM. G 1888, Ma 50 (klein).

 

 

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