Stadterweiterung und Entsorgung an Rhein und Mosel
1. Erste Kanalisationsprojekte
Schon im alten Rom war die Abfuhr von Fäkalien lizenziert. Sie brachte den Städten Einnahmen, weil der Inhalt der Latrinen einer landwirtschaftlichen Verwertung zugeführt werden konnte. Das System funktionierte vielerorts bis weit in die Frühe Neuzeit hinein. Allerdings geriet das gewachsene System bereits mit der technischen Revolution des Spätmittelalters ins Wanken. Der steigende Bedarf erforderte es, das Wasser auf künstlichem Wege in die Stadt zu bringen. Einfach versickern konnte es nach Gebrauch jedoch nicht mehr. In vielen Fällen wurde es unkontrolliert abgeleitet und als Kloake missbraucht. Die Folge: Trübe, schlammige und faulige Massen wälzten sich durch offene Gräben. Der Gestank war ein weiteres Indiz dafür, dass das in Antike und Mittelalter gewachsene System Schritt für Schritt zusammenbrach.1
Die Zunahme der Wohndichte in den deutschen Städten des 19. Jahrhunderts führte zwangsläufig zu Entsorgungsproblemen. Schon um 1850 waren vielerorts derartige Mengen von Unrat angefallen, dass die kommunalen Verwaltungen kaum noch geeignete Gegenmaßnahmen treffen konnten. Es waren nicht nur die menschlichen Exkremente, die die Gesundheit der Bevölkerung bedrohten. Mist von Pferden und Vieh stellten die Verantwortlichen ebenfalls vor schier unlösbare Probleme. Hinzu kamen Tierkadaver, Asche von den Öfen und Hausmüll. Allein in Hamburg fielen um die Jahrhundertmitte rund 20.000 Tonnen Abfall und andere Stoffe an!2 Solche frühen Umweltprobleme waren auch in anderen Städten nicht unbekannt. So entsorgten 1876 in Freiburg 4000 bis 5000 Menschen ihren Unrat in den Gewerbebach.3
Diese Zustände und der damit verbundene Ausbruch des neuen Seuchenzeitalters entfachte natürlich nicht nur die Diskussion um den Bau von modernen Trinkwasserversorgungssystemen. Auch der Ruf nach einer möglichst hygienischen Entsorgung wurde immer lauter – und das schon vor Beginn der Choleraepidemien. Eine Vorreiterstellung nahm dabei wieder einmal die Hygienebewegung in England ein. Hier hatten Experten bereits in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Möglichkeit hingewiesen, Schmutzwasser und Jauche in Berieselungsfeldern zu reinigen. Später begannen die Ingenieure damit, die herkömmlichen Schwemmkanäle punktuell dahingehend zu modifizieren, dass sie die Fäkalien nicht mehr direkt in die Wasserläufe, sondern auf sogenannte Berieselungsfelder leiteten.4
Auch in Paris wurde nach den verheerenden Folgen der Choleraepidemie von 1832 mit den unterschiedlichsten Entsorgungssystemen experimentiert. Wurden die Abwässer über die neu angelegten Kanäle in die Seine geleitet, stellte man das System unter dem Einruck der Londoner Weltausstellung von 1851 infrage. Aus England „importierte“ man nicht nur das Konzept, die großen Kanäle künftig eiförmig anzulegen, sondern auch Ideen zur Verbesserung der Entsorgungssysteme. Handlungsbedarf gab es genug: Zum einen hatte das Wasserklosett nach bescheidenen Anfängen um 1810 seinen Siegeszug angetreten und sich am Ende des Jahrhunderts überall durchgesetzt5 (was allerdings die bestehenden Systeme an ihre Leistungsgrenze führte), zum anderen sollte auf Wunsch des Kaisers Louis Napoleon ein neues Stadtbild entstehen.
Der Präfekt und Stadtplaner George-Eugène Haussmann (1809–1891) kümmerte sich nicht nur um die Stadtgestalt (wobei der Durchbruch großer Boulevards auch aus Gründen der inneren Sicherheit erfolgte), sondern auch um die Fäkalienentsorgung. Ein Vorschlag war, flüssige und feste Abtrittsstoffe voneinander zu trennen und letztere unterirdisch zu sammeln und für die landwirtschaftliche Verwertung abzufahren. Haussmann verglich sein System selbst mit einem menschlichen Organismus. Dennoch konkurrierten mehrere Systeme miteinander. Die Folge: Die Verschmutzung der Seine durch Direkteinleitungen sollte weiterhin zum Alltag gehören. Erst 1894 wurde durch neue Vorschriften gegengesteuert.6
Auch in Deutschland wurde vor dem Hintergrund der Choleraepidemien bereits früh über die Trinkwasserfrage und die Entsorgungsprobleme diskutiert. Selbst die preußische Regierung schaltete sich aktiv ein. So ernannte Landwirtschaftsminister Werner von Selchow in den 1860er-Jahren eine Kommission, die die sanitären Verhältnisse in europäischen Städten untersuchen sollte. Dem Gremium gehörten C. von Salviati, Generalsekretär des Landes-Ökonomie-Kollegiums, der Königliche Landmeliorations- und Wasserbau-Inspektor O. Roeder und Dr. H. Eichhorn, Professor und Lehrer der Agrikulturchemie am Königlichen landwirtschaftlichen Lehrinstitut in Berlin, an. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit lag dabei auf London. Der Bericht der Kommission lag schließlich am 10. Dezember 1864 vor und setzt sich vor allem mit der Londoner Schwemmkanalisation kritisch auseinander.7
Die Auseinandersetzungen über die Stadthygiene waren mitunter sehr heftig und hatten lokale Folgen. In Osnabrück zum Beispiel wählten die Bürger nach den Cholerajahren 1859 und 1866 die alte Stadtspitze einfach ab, weil man ihr vorwarf, die stadthygienischen Probleme nicht in den Griff zu bekommen.8 Auf überregionaler Ebene wurde bereits darüber diskutiert, ob es wirklich sinnvoll war, Abwässer in die Gewässer zu leiten. Dr. Georg Varrentrapp hatte sich 1872 bei seinem Vortrag im Frankfurter Verein für öffentliche Gesundheitspflege dafür ausgesprochen, die Abwässer nicht mehr direkt in die Flüsse zu leiten, sondern zuerst dem Boden zuzuführen, der die organischen Dungstoffe aufnehmen sollte. Diese Forderung wirkte sich 1875 auch auf die Frankfurter Kanalisation aus, denn die umliegenden Gemeinden hatten erfolgreich gegen eine direkte Einleitung der Abwässer in den Main protestiert: Auch die königlich-wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen war gegen die „direkte Entsorgung“ eingestellt. Zwar führte der große Widerstand nicht zur Einrichtung von Berieselungsfeldern, doch immerhin kam es zur nachträglichen Errichtung einer mechanischen Klärvorrichtung.9
Trotz der Verbesserungsbestrebungen bleibt festzuhalten: Die Schwemmkanalisation ohne Klärvorrichtungen – eine Entwicklung britischer Ingenieure – blieb Vorbild. William Lindley, nach dem Hamburger Stadtbrand von 1842 in den folgenden Jahren maßgeblich an der Verwirklichung einer zentralen Wasserversorgung und der nach einem einheitlichen Plan erbauten Kanalisation beteiligt, wurde vielerorts um Rat gefragt, so in Düsseldorf, Krefeld und Chemnitz. Auch die 1868 in Betrieb genommene Frankfurter Kanalisation war eine Entwicklung des Engländers, dessen Hamburger Projekte lange Zeit als die modernsten in Europa galten. Allerdings sah sich Lindley immer öfter mit Widerständen konfrontiert. So formierte sich in Frankfurt eine regelrechte Widerstandsbewegung. In der Stadt hatte es nämlich mehrere Konzepte gegeben.10
Die Entwicklungen in Deutschland, England und Frankreich wurden gleichfalls in der Schweiz aufmerksam verfolgt. Dort bestand dringender Handlungsbedarf. Das aufstrebende Zürich war beispielsweise immer wieder von Typhusfällen betroffen. Bereits 1863 war für den gesamten Kanton ein neues Baugesetz verabschiedet worden, das immerhin die Kanalisation von Neubaugebieten vorschrieb. Dass dies nicht ausreichte, bekamen die Züricher im Winter 1865/66 zu spüren, als 143 Menschen an Typhus erkrankten. Die Verantwortlichen handelten schnell. Bereits im März 1867 stimmte die Gemeindeversammlung der Stadt Zürich für eine umfassende Sanierung der Abwasserentsorgung.11
Wie eng Wasserversorgung und Kanalisation zusammenhängen, zeigt sich am Beispiel Berlins. Dort plante James Hobrecht von 1872 an ein selbststständiges Kanalsystem nach dem Londoner Vorbild.12 Bereits 1816 hatte man in der preußischen Hauptstadt die Anlage einer Wasserleitung gefordert, die ausschließlich dazu verwendet werden sollte, die Rinnsteine auszuspülen. Das System war nicht neu, hatte es doch schon im Mittelalter und der Frühen Neuzeit in einigen Städten bereits Versuche gegeben, derartige Verfahren zu etablieren. Und so existierten im Berlin der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrere Entwässerungskonzepte, denen allerdings zumindest in den ersten Jahrzehnten nur wenig Erfolg beschieden war.
1838 wurden diese alten Konzepte wieder aufgegriffen und den neuesten technischen Entwicklungen angepasst. So sollten Dampfmaschinen, Hochbehälter und gusseiserne Rohre für den notwendigen Wasserdruck sorgen, um die Straßen Berlins sauber zu halten. Die Pflasterung der Stadt war seit 1829 systematisch vorangetrieben worden. Doch das modifizierte System hatte einen entscheidenden Nachteil: Es eignete sich nicht zur Abführung von Fäkalien. Es blieb zunächst dabei: Der Unrat wurde einfach weiter in die Spree gekippt. Allein im Bereich der Jungfernbrücke wurde zwischen 1820 und 1830 schätzungsweise auf diese sorglose Weise jährlich der Inhalt von 200.000 Eimern „entsorgt“. Eine Lösung der Berliner Probleme rückte erst mit dem Ausbau der zentralen Wasserversorgung und Einführung der Kanalisation in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts in greifbare Nähe.13
Trotz der immensen technischen Fortschritte hatte man auch am Ende des 19. Jahrhunderts die sanitären Probleme nicht gelöst. Die Ver- und Entsorgungssysteme waren vielerorts verbesserungsbedürftig. Und: Von nach einheitlichen Standards entwickelten Netzen konnte beim besten Willen keine Rede sein. Das hat Jürgen Büschenfeld am Beispiel preußischer Städte aufgezeigt. Zwar waren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert 180 preußische Städte ganz oder teilweise kanalisiert, doch sagt diese Zahl noch gar nichts über die tatsächliche Qualität aus. Dafür sprechen auch die statistischen Angaben von 1900. Demnach gab es 147 „planmäßig“ und 32 „wild“ kanalisierte Gemeinden.
Tatsächlich dürfte die Zahl der verbesserungswürdigen Systeme wesentlich höher gewesen sein: Auch wenn vielerorts Rahmenplanungen für Kanalisationen existierten, wurden künftige Erweiterungsmöglichkeiten nicht eingearbeitet. Die Folge: „Wildwuchs“ von nachträglich angefügten Anlagen in den Stadterweiterungsgebieten. Jürgen Büschenfeld nennt Gründe, die er mit zeitgenössischen Quellen untermauert. Demnach waren für die Kommunen und ihre Stadtbaumeister des 19. Jahrhunderts – die sich meistens bei Hochbaumaßnahmen profilieren wollten – Straßen- und Kanalbaumaßnahmen von untergeordneter Bedeutung. Das lag auch daran, dass es für den Kanalisationsbau lange keine allgemein anerkannten Regeln der Technik gab und somit mehrere Verfahren miteinander konkurrierten. Und schließlich spielte der städtische Tiefbau frühestens seit den 1880er-Jahren in der akademischen Ausbildung eine Rolle14, wobei sich Otto Ewich bereits 1871 kritisch mit den englischen Entsorgungssystemen auseinandersetzte.15 Später fand auch einschlägige Literatur im Sinne von „Bauanleitungen“ weite Verbreitung, wie zum Beispiel das Standardwerk von E. Dobel zeigt, das mehrfach aufgelegt wurde.16
Ein weiteres Problem im 19. und auch im frühen 20. Jahrhundert war das Fehlen ausreichender gesetzlicher Grundlagen. Hatte man in Preußen und später im Deutschen Kaiserreich in den Gewerbeordnungen von 1845 und 1871 bereits frühzeitig Aspekte des Immissionsschutzes verankert, blieben die Probleme des Gewässerschutzes und der Abwasserbeseitigung außen vor. Der Staat intervenierte nicht oder nur unzureichend, weil Wasserversorgung, Abfall-, Abwasser- und Fäkalienbeseitigung entweder private oder rein kommunale Aufgaben waren.
Grundsätzlich sollte sich diese Auffassung erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ändern. Bis dahin gab es zum Beispiel in Preußen nur punktuelle Regelungen, die noch nicht einmal landeseinheitlich galten. Michael Kloepfer nennt als Beispiele die „Allerhöchste Kabinettsordre“ vom 24. Oktober 1816, die das Hineinwerfen fester Stoffe in Flüsse und Kanäle untersagte, sowie das Gesetz über die Benutzung der Privatflüsse vom 28. Februar 1843. Letzteres verbot die Verunreinigung durch Färbereien, Gerbereien oder Walkereien.
Ansonsten wurde die Gewässerbenutzung nach unterschiedlichen Wasserrechtssystemen geregelt, die wiederum auf uneinheitlichen Gewässereinteilungen und Eigentumsverhältnissen basierten. Allerdings sollte bei der Betrachtung dieser rechtlichen Lücken nicht übersehen werden, dass die Situation in den deutschen Staaten längst nicht so dramatisch war wie in England, wo bereits 1857 der legendäre „Great Stink“ der Themse selbst die Londoner Parlamentarier aufgeschreckt hatte.17
Diese Feststellung gilt besonders für Koblenz, das wegen seiner Lage an zwei Flüssen noch als relativ sauber galt. Weil zudem der Mittelrhein bis weit in das 20. Jahrhundert im Vergleich zu anderen Abschnitten des Stroms relativ unbelastet war, glaubte man, die Klärung der Abwässer mit Segen des Staates möglichst lange hinauszögern zu können. Allerdings entschied man sich im Falle der neuen Kanalisation für ein sehr vorausschauendes Konzept, das nachträgliche Erweiterungen und auch die Anbindung an eine Kläranlage möglich machte. Dennoch war es bis zu einer vernünftigen Stadtentwässerung ein weiter Weg, wie in den folgenden Abschnitten aufgezeigt werden soll.
2. Frühe Entwässerungssysteme in Koblenz
Auf welche Weise das Oberflächenwasser im mittelalterlichen Koblenz abgeführt wurde, entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis. Anscheinend hat man sich jedoch nicht mit der Anlage von Schächten zur Aufnahme der Fäkalien begnügt. Vielmehr bestanden – zumindest in einigen Straßen der Altstadt – Ableitungsrinnen und -röhren, vielleicht auch kleinere Kanäle. Einen Anhaltspunkt für diese Vermutung lieferten die Ausgrabungen in der Burgstraße Anfang der 1980er-Jahre. Hier legten Archäologen des Landesamtes für Denkmalpflege18 eine Abwasserrinne frei, die durch die spätantike Kastellmauer gebrochen worden war und zur Mosel führte.
Insgesamt gesehen fehlen allerdings die Beweise, die für eine Rekonstruktion der Verhältnisse in der Stadt vor Anbruch des 18. Jahrhunderts erforderlich sind. Eine Ausnahme bildet der ehemalige Graben des spätantik-frühmittelalterlichen Kastells, der stellenweise auch noch im 18. Jahrhundert offen war. Für diese Anlage existieren noch schriftliche Quellen, die einen Einblick in die Situation während der Frühen Neuzeit ermöglichen. So schrieb zum Beispiel Kurfürst Johann Vl. von der Leyen 1563 an den Koblenzer Rat, der vor allem im Entenpfuhl immer noch offen stehende Graben sei „[...] der Stadt sunderlich nichts dhienlich, da man jederzeit von der Mosell [...] Wassers genug haben kan. [...]“19 Der Brief zeigt, dass der im Bereich Altengraben, Entenpfuhl und Kornpfortstraße einst bestehende Graben nicht nur zur Aufnahme des Oberflächenwassers, sondern auch als Kloake diente.
Der Entenpfuhl20 lag noch um 1760 so tief, dass sich hier bei Hochwasser der Mosel das Grundwasser sammelte. Die hygienischen Verhältnisse in diesem Bereich waren bedenklich, denn die Koblenzer benutzten diese Straße auch noch zu jener Zeit zur Beseitigung ihrer Abwässer. Zu den schlechten Bedingungen trug aber auch der Unrat aus den Gardestallungen bei. In einem Brief vom Mai 1760 beschrieb der Magistrat die Situation: „[...] der Änten Puttel um daher genennet zu werden pfleget, weilen vorhin das Wasser aus der Stadt daselbsten zusammen geflossen und ein blose cloac vorgestellt hat. [...]“21
Obwohl bereits Kurfürst Franz Georg von Schönborn (1729–1756) erste Verhandlungen über die vorzunehmenden Veränderungen eingeleitet hatte, geschah nichts. Die Angehörigen des Rates beschwerten sich deswegen bei Schönborns Nachfolger Johann Philipp von Walderdorf (1756–1768). In einem Brief wiesen die Vertreter der Stadt darauf hin, dass „die Misthaufen mitten in der Stadt“ lagen und beteuerten, nichts an den Verhältnissen im Entenpfuhl ändern zu können, „[...] so lang die guarden pferdtställe nicht von diesem mitten in der stadt und an der passage gelegenen platz hinweg geschaffet, so forth derselbe von unflath gereiniget werde, all übriger Aufwand um sonst seye [...]“22
Trotz der Beschwerden des Magistrats blieb die Obrigkeit untätig. Besonders Hofkammer und Hofrat widersetzten sich der Beseitigung der Stallungen und ihrer anschließenden Verlegung nach Ehrenbreitstein. Erst als der Stadtrat einlenkte und die Neuerrichtung der Gardestallungen im Bereich des Koblenzer Burggrabens im westlichen Bereich der Altstadt anregte, kam es im Januar 1765 zur Wiederaufnahme der Verhandlungen.23 Erst ein Jahr später erfolgte der Abbruch. Die Bekämpfung der schlechten sanitären Verhältnisse und der Bau neuer Häuser konnten beginnen.24
Aber auch abseits des Entenpfuhls gab es eine Reihe von problematischen Stellen. Dazu gehörte vor allem das Moselufer. Die Zustände in diesem Bereich schilderte der kurfürstliche Geheimrat Haack wie folgt: „Die von der Korn- bis zur Schwanen pfort zwischen der Stadt und fortifications Mauer an der Mosel hergehende Straße war ehedessen bekanntlich so voll morast und unflath, theils von dem ausschütten aus den häußeren, theils von dem stehen gebliebenen regen wasser; das solche [...] allein nicht zu passieren, sondern auch um so unausstehlicher gestank daselbst war, daß jeder einen abschäu für dießer gegend tragen muste. Weder warn die unflat oder das wasser aus mangel genugsamer abflüssen abzuführen. [...] Die Mosel Baraque ware so baufällig, daß man täglich derselben Einsturz befürchten muste, und war anbey nur der aufenthalt alter soldaten weiher mit ihren Döchteren, welche mehristen Theils von dem liederlichen leben profession nachgehen. [...]“25
Die Obrigkeit beseitigte die Missstände, indem sie die alte Soldatenbaracke abbrechen, die Straße pflastern, die zur Mosel führenden Abwasserrinnen überwölben und den erst 1764 erbauten Viehhof abbrechen ließ.26
Während der Herrschaft des letzten Trierer Kurfürsten, Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1768–1794/1802), verbesserten sich die sanitären Verhältnisse auch allgemein: Im Zuge des Neubaus des Kurfürstlichen Schlosses in Koblenz, der Einebnung eines Teiles der Festungsanlagen und der Schaffung eines neuen Stadtteils in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts befasste man sich mit dem Bau von Kanälen. Beratungen und Planungen galten nicht nur den Neustadtstraßen. Auch die Altstadt – vor allem die Görgengasse und die Kastorgasse – wurde in die Überlegungen einbezogen.27
Bereits 1772 hat es in der Görgengasse einen überwölbten Kanal gegeben, der in den alten Stadtgraben mündete. Die Situation muss allerdings weiterhin sehr unbefriedigend gewesen sein.28 Trotz dieser Unzulänglichkeit leiteten weder Stadt noch kurfürstliche Verwaltung wirksame Maßnahmen ein. Auch die erneute Verhandlung der Sache am 13. Juni 1786 brachte zunächst keine entscheidenden Verbesserungen.29 Schwierigkeiten gab es auch in der Rheinstraße. Dort klagten die Anwohner über den unerträglichen Gestank, der von den neuen überwölbten Kanälen ausging.30
Vor dem Baubeginn des die ganze Stadt umfassenden Kanalsystems (1892) war die Entwässerung der Stadt mangelhaft. Sie erfolgte – wie bereits in den Abschnitten zuvor dargestellt – meist oberirdisch durch die Straßenrinnen. Kurzum: Die wenigen vorhandenen Kanäle waren völlig unzureichend und zum Teil defekt. So wurden die Gebiete im Bereich des Rhein- und Moselufers durch Stichkanäle entwässert. Da die Spülung mangelhaft war und das Gefälle nicht ausreichte, war die Funktion dieser Kanäle regelmäßig durch Schlammmassen beeinträchtigt. Darüber hinaus gab es einen noch aus kurfürstlicher Zeit stammenden Hauptkanal. Dieser war einst zur Entwässerung eines Teils der Neustadt angelegt worden. Er begann am Altlöhrtor und führte über Clemensstraße und die Nordseite des Clemensplatzes bis zum ehemaligen Freihafen am Rheinufer, der sich auf Höhe des Regierungsgebäudes (heute Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung) befand.31
Im kurfürstlichen Stadterweiterungsgebiet waren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts weitere Kanäle angelegt worden. Sie führten unter dem Schloss hindurch zum Rhein. Über diese Kanäle wurde das Oberflächenwasser der Neustadt, des Schlossrondells und der Schlossstraße abgeleitet. Von einer Kanalisation im heutigen Sinne konnte allerdings nicht die Rede sein. Das Ganze war uneinheitlich geplant worden und hatte daher erhebliche Mängel. So wurde in der Schlossstraße das Wasser über Rinnen abgeführt, die im Winter vereisten.32
Weitere Kanäle wurden im Bereich des ersten preußischen Stadterweiterungsgebietes angelegt. Einer dieser Kanäle führte vom Löhrrondell und dem angrenzenden Gelände über einen alten Graben der kurfürstlichen Stadtbefestigung zum Moselufer. Ein weiterer Kanal wurde im Bereich des heutigen Friedrich-Ebert-Rings angelegt. Die Entwässerung erfolgte über einen Graben der zur Pfaffendorfer Brücke führenden Verbindungsbahn.33 Da dieses Gebiet im Zuge der Aufgabe der Festung und der Entstehung der Südlichen Vorstadt völlig umgestaltet wurde, ist die exakte Situation heute schwer zu rekonstruieren.
Insgesamt müssen die Verhältnisse jedoch sehr unbefriedigend gewesen sein, da die Abflussrinnen oft ganz offen lagen und bestenfalls mit Holzbohlen abgedeckt waren. Dafür spricht auch folgende Beschwerde der Fortifikation Koblenz über Probleme in der südöstlichen Altstadt bei Oberbürgermeister Abundius Maehler vom Juni 1837: „[...] Die aus der Straße genannt Vogelsang vor dem Proviantamt vorbeiführende Clemensplatz-Straße hinabfließende Rinne trifft dort etwa rechtwinklig in die mit recht gutem Gefälle versehene Rinne der letzteren Straße ein, und der Abfluss, das mit sehr vielen Seifentheilen beständig verunreinigten Wassers geht […] unter einem [...] Bohlenbrückchen links ab. Wenn diese Balken nicht täglich gehoben und dieser verdeckte Rinnentheil nicht täglich gereinigt wird, womit ein Stadtknecht [...] beauftragt ist, so verdickt sich dieses Seifenwasser so sehr, daß es nachher auch in der offenen Rinne sehr schlecht abfließt und einen sehr üblen Geruch unmittelbar vor dem Proviantamtgebäude verbreitet. [...]“34
Erst 1883 wurde eine erste Kanalstrecke im heutigen Sinne angelegt, die später in das neue System der Stadt integriert wurde. Das Konzept stammte aus der Feder des Koblenzer Stadtbaumeisters Hermann Antonius Nebel (1816–1893). Das Material lieferte die Firma Dykerhoff & Widmann. Gebaut wurde ein eiförmiger Betonkanal mit einer Höhe von 1,20 Metern und einer Breite von 80 Zentimetern.35 Eingebunden wurden genau die Bereiche der Altstadt, in denen die Entwässerung schon immer Probleme bereitet hatte. Dieser Kanal begann in der Kornpfortstraße und führte über Entenpfuhl und Görgenstraße zum Altlöhrtor. Die Maßnahmen führten dazu, dass man in diesem Bereich zumindest das Regenwasser in den Griff bekam. Alle anderen Probleme mussten aber im Zuge einer umfassenden Gesamtplanung gelöst werden.
Auch als Hermann Antonius Nebel sein Projekt vollendet hatte, war es so, dass Häuser und Höfe bestenfalls über verdeckte Rinnen entwässert wurden, die direkt aus den Hausfluren kamen. Die Regel war aber nach wie vor, dass Abwasser und Unrat in Senkgruben geleitet werden mussten, die meistens undicht waren und spätestens, wenn sie überliefen, den Untergrund verseuchten. Die Situation sollte sich erst grundlegend ändern, als die Aufgabe der preußischen Stadtbefestigung den Weg für ein Gesamtkonzept frei machte.36
3. Wohin mit Abfall und Fäkalien?
In kurfürstlicher Zeit waren in erster Linie die Bürger verpflichtet, die Straßen reinzuhalten. Doch diese erfüllten ihren Verpflichtungen entweder nachlässig oder überhaupt nicht. Das geht aus einer Bestandsaufnahme von Peter Andreas Bourmer vom Februar 1793 hervor. Der kurfürstliche Hofrat bemängelte, dass Hauseigentümer ihre Reinhaltepflicht auf den Straßen nicht erfüllten und erinnerte an einen entsprechenden kurfürstlichen Erlass vom Dezember 1769.37
Dass die schlechten hygienischen Verhältnisse in der Stadt auf Dauer kein Zustand sein konnten, war den Verantwortlichen durchaus bewusst. So stellte der kurfürstliche Hofrat und Landphysikus J. J. Foelix im Juli 1794 gleich einen ganzen Forderungskatalog auf. In einem Brief an den Kurfürsten wies er darauf hin, dass er in den vergangenen Jahren bereits mehrmals auf die Missstände in der Stadt hingewiesen hatte und betonte, dass es schon allein aus Gründen der Gesundheitsvorsorge erforderlich war, die Luft reinzuhalten und die Qualität der Lebensmittel zu überwachen. Vor allem für die warmen Sommertage forderte er die regelmäßige Reinigung und Befeuchtung der Straßen. Darüber hinaus plädierte er für eine klar geregelte Abfuhr des Kehrichts und das Vorhandensein von sogenannten „Straßeneimern“ als Behälter für den abzufahrenden Unrat.
Foelix forderte darüber hinaus ein Verbot der Unsitte, Fäkalien und Abwässer aus den Häusern über die Rinnsteine zu entsorgen. Als besonders schlecht kritisierte der Landphysikus die Verhältnisse im Bereich des Barbaraklosters, wo nicht nur der frühe Hospitalbetrieb, sondern auch ein Gefängnis für unerträgliche Zustände „[...] zum Nachtheil dieses Klosters und der Nachbarschaft [...] sorgte. […]“38 Die kritischen Beobachtungen des Landphysikus zeigen, dass die ausgedehnten Diskussionen des 18. Jahrhunderts um die Einführung oder eine Verbesserung der sogenannten „Medicinalpolizey“ auch in der kurfürstlichen Residenzstadt Koblenz angekommen waren.
Kein Wunder: Die breite Debatte um das öffentliche Gesundheitswesen hatte gerade im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einer umfassenden Fachpublizistik geführt, in der sich neben Staatsphilosophen und Kameralisten vor allem aufstrebende Ärzte hervortaten. Ganz so neu, wie es scheint, waren die Gründe für die wissenschaftliche Auseinandersetzung allerdings nicht. Erst kürzlich hat Caren Möller darauf hingewiesen, dass bereits im 16. und 17. Jahrhundert Schriften erschienen waren, die den Schutz der Gesundheit zunächst dem städtischen, später dem landesherrlichen Aufgabenbereich zuwiesen. Die Autoren im Zeitalter der Aufklärung konnten somit auf bestehenden Ideen aufbauen.39
Zu den herausragenden Autoren, die die Notwendigkeit einer öffentlichen Gesundheitspflege propagierten, gehörte der bereits von seinen Zeitgenossen hoch geschätzte Johann Peter Frank (1745–1821). Zwar ist dem deutschen Mediziner gerade in der jüngsten Forschung seine herausragende Stellung als Begründer der öffentlichen Hygiene abgesprochen worden, doch bleibt es Franks Verdienst, dass er sich nicht auf Einzelprobleme konzentrierte, sondern alles unter die Lupe nahm, „was von der Erzeugung bis zum Tode und zur Beerdigung der Sterblichen die öffentliche Gesundheitspflege betrifft“.40
Trotz ihres kritischen Ansatzes räumt auch Caren Möller ein, dass der spätere Leibarzt des russischen Zaren Alexander I. die damalige Diskussion maßgeblich beeinflusst hat. Dafür spricht auch der große Erfolg seines sechsbändigen Werkes „System einer vollständigen medicinischen Policey“, das 1779 veröffentlicht wurde. Eine Neuauflage der ersten drei Bände erfolgte bereits 1787. Und nicht vergessen werden darf, dass Professor Frank, der in Göttingen und Pavia lehrte, die grundlegende Modernisierung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien prägte.41
All diese Fakten waren auch in Koblenz bekannt. Es kommt nicht von ungefähr, dass in kurfürstlicher und auch in französischer Zeit immer wieder auf die hygienischen Zustände in Koblenz geachtet wurde. Trotz dieser Vorstöße dauerte es noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein, bis es so etwas wie eine geregelte Reinigung der örtlichen Straßen gab. Und auch die französische Besatzungszeit änderte trotz der fortschrittlichen Gesetzgebung in der Ära Napoleons an dieser Tatsache wenig.
Es ist bezeichnend, dass eine der ersten Taten der Preußen im Rhein-Mosel-Departement der Versuch war, das Problem unsauberer Straßen und Gewässer in den Griff zu bekommen. Bereits im Mai 1814 erließ der „General-Gouverneurs-Commissaire für das Rhein-Mosel-Departement“, Ludwig Freiherr von Vincke, eine Verordnung, um „Frevel“ auf Straßen und an Bächen zu verhindern, weil „[...] sehr viele Eigenthümer den Gesetzen und Polizei-Verordnungen, welche für die Erhaltung der Straßen und Bäche ergangen sind, zuwiderhandeln, daß sich diese Frevel allgemein verbreitet haben, wodurch der so nachtheilige Fall eintreten könnte, daß in wenig Jahren die Straßen, Leinen-Pfade, Freiufer und Brücken dergestalt verwüstet werden, daß man zu ihrer gänzlichen Wiederherstellung bedeutende Summen verwenden müsste. [...]“42
Vinckes Anordnung mit insgesamt zehn Einzelvorschriften zielte nicht nur auf die Zustände in den Gemeinden. Er wollte auch verhindern, dass die Gräben an den Landstraßen als „Deponien“ für Hausabfälle und Bauschutt missbraucht wurden. Streng untersagt war es weiterhin, Wasserläufe auf eigene Faust zu ändern. Das war vor allem eine Warnung an die Müller.43 Und dem Koblenzer Oberbürgermeister Mazza hatte der „Commissaire“ bereits im März klargemacht, dass Unterhaltung und Säuberung der Koblenzer Straßen ausschließlich eine Sache der Gemeinde war.44
Die Praxis sah anders aus. Man hielt am Prinzip aus kurfürstlicher Zeit fest, die Sorge um die Reinheit der Straßen den Hauseigentümern zu überlassen. Allerdings wurden private Fuhrunternehmen oder Landwirte beauftragt, den zusammengekehrten Unrat abzufahren. Die Polizeiverordnung vom 15. November 1816 ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Prinzip auch für den „Winterdienst“ galt. Die Vorgaben waren nicht neu. Es ging darum, „[...] dem Publikum [...] seit längerer Zeit schon bestehende zweckmäßige Vorschriften in Erinnerung zu bringen. [...]“45 Die Verordnung hatte folgende Kernpunkte:
Die Polizeidirektion gab deutlich zu verstehen, dass es um die Gesundheit sowie die „öffentliche Sicherheit und Bequemlichkeit der Einwohner“ gehe. Für den Fall des Zuwiderhandelns kündigte die Polizeidirektion strenge Strafmaßnahmen an, die unnachsichtig angewendet werden sollten.46
Später sollten die Vorschriften weiter verfeinert werden, wobei man aus anderen Städten wie zum Beispiel Köln oder Trier Musterverordnungen anforderte. Am Prinzip der „Bürgerbeteiligung per Erlass“ und dem Abtransport des Unrats durch private Fuhrunternehmer oder Landwirte aus der unmittelbaren Umgebung änderte sich jedoch nichts. Letztere sammelten den Unrat von den Straßen – das war in der Regel der Kot von Schweinen und Pferden – und düngten damit ihre Felder. Von einer geregelten Abfuhr und Straßenreinigung konnte jedoch in Koblenz lange nicht die Rede sein. Das zeigen auch die Ausführungen von Abundius Maehler. Der Oberbürgermeister hatte noch in der Sitzung der Stadtverordneten am 1. Februar 1819 über die Unzuverlässigkeit der Abnehmer des „Gassendüngers“ geklagt. Die kamen in der Regel aus der Nachbargemeinde Neuendorf. Die nachlassende Qualität des natürlichen Düngers ließ jedoch das Interesse von Landwirten und Fuhrleuten schwinden.
Die Gründe für diesen Qualitätsverlust lagen auf der Hand: Polizeidirektor Johann Heinrich Weber hatte es nämlich bereits 1816 untersagt, Schweine auf der Straße herumlaufen zu lassen – die Haltung von Schlachttieren in der Innenstadt war bis dahin noch an der Tagesordnung gewesen. Nach diesen behördlichen Beschränkungen war die Stadt gezwungen, Fuhrleute für die Abfuhr des Unrats zu bezahlen. Allerdings scheint der ursprünglich eingeplante Lohn für diese Arbeit nicht sonderlich hoch gewesen zu sein. Nur mit Mühe fand der Oberbürgermeister 1819 einen Fuhrunternehmer aus Neuendorf, der bereit war, die Aufgabe zu übernehmen. Der Fuhrmann setzte sogar eine beachtliche Entlohnung in Höhe von 1200 Francs jährlich durch. Da es zu dieser Zeit keine Alternative gab, segneten die Stadtverordneten die Forderung des Neuendorfers ab. Auf Dauer war den Stadtvätern diese Lösung jedoch zu teuer, sodass man bereits ein Jahr später dazu überging, die „ausgeschriebenen“ Leistungen öffentlich zu versteigern. Ein anderer Neuendorfer erhielt schließlich den Zuschlag – er erledigte die Arbeit für 780 Francs jährlich. 1838 zahlte die Stadt 53 Taler für die gleiche Aufgabe.47
Doch dieser Preis war auf Dauer nicht zu halten, weil nicht nur die Abfallmengen wuchsen, sondern auch die Qualität des „Naturdüngers“ ständig sank. Ein Grund hierfür war die Tatsache, dass immer mehr Menschen mit Kohle anstatt mit Holz heizten. Die verbrannte Braun- oder Steinkohle wurde einfach auf den Straßen „entsorgt“. Dazu kam eine enorme Zunahme von Scherben, da Keramik längst zu einer industriell gefertigten preiswerten Massenware geworden war. Die Reinigungskosten stiegen für die Stadt rapide an.
Es war allerhöchste Zeit, verbindliche Vorschriften zu erlassen, die den tatsächlichen Verhältnissen auch wirklich entsprachen. Nach der Trennung von Polizei- und Gemeindeverwaltung entstand schließlich die Straßenreinigungsordnung, die am 2. Dezember 1852 als Polizeiverordnung erlassen wurde. Eine Folge der schärferen Bestimmungen war, dass die Fuhrunternehmer neue Verträge durchsetzten, weil nun mehr Arbeit auf sie zukam. Die jährlichen Kosten für die Abfuhr stiegen von 80 Talern zeitweise auf 2348 Taler, bevor es in den 1860er-Jahren gelang, das Honorar wieder auf 800 bis 1000 Taler zu senken. 1866 übernahm Freiherr von Chlendowski, ein Gutsbesitzer auf dem Oberwerth, die Abfuhr für 800 Taler.48
Nicht nur für den „Naturdünger“ von den Straßen, sondern auch für die allgemeine Straßenreinigung musste auf Dauer eine Lösung gefunden werden. Noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war es üblich gewesen, den gesamten Unrat und Kehricht aus Häusern und Küchen einfach auf die Straße zu schütten. Allerdings sorgte die Stadt dafür, dass die Hausabfälle dreimal wöchentlich mit einem Karren abgefahren wurden – wohl ohne die Bürger an den Kosten zu beteiligen. Erklang eine Schelle, waren Hauseigentümer und -bewohner allerdings verpflichtet, beim Aufsammeln dieser Abfälle zu helfen.
Aus dem Juli 1829 ist überliefert, dass die Stadt einen Mann verpflichtete, der für einen Lohn von jährlich 120 Talern alle öffentlichen Plätze, Straßen und Kanäle reinigen musste. Dennoch: Das achtlose Fortwerfen des Unrates konnte kein Dauerzustand sein und wurde deshalb auch konsequenterweise verboten. Die Anlieger mussten sich nun verpflichten, die Abfälle in Körben oder anderen Gefäßen zu sammeln und an die Haustüren zu stellen. Von dort wurde der Unrat zusammen mit dem Straßenschmutz abgefahren.49
Später fuhr die Stadt den Hausmüll mit geschlossenen Kehrichtwagen ab, die eigens zu diesem Zweck angeschafft worden waren. Wie diese Wagen aussahen, kann mithilfe der Akten nicht ausreichend erschlossen werden. Es dürfte sich um Kastenwagen mit schiefstehenden Wänden und Klappdeckeln gehandelt haben, wie sie der frühere Direktor der Stadtreinigung in Nürnberg, Dr. Rolf Pohle, beschrieben hat. Der Nachteil: Die Fuhrwerke waren nicht 100-prozentig dicht, zudem fiel der Müll beim Leeren der Gefäße (die damals noch nicht genormt waren) auf die Straße.50
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte man deshalb vielerorts ein staubsicheres System einzuführen: Asche machte damals auch in Koblenz noch einen wesentlichen Teil der Hausabfälle aus. Das Vorhandensein einer geregelten Abfuhr sagte allerdings noch lange nichts über die Straßenreinigung aus. Im Gegenteil: Die Stadt nahm die Anlieger in die Pflicht. Sie sollten die Straßen selbst kehren. Der Kehricht musste so angehäuft werden, dass er problemlos abgefahren werden konnte. In der Praxis funktionierte das System der Bürgerbeteiligung jedoch nicht. Man hätte die Anlieger der jeweiligen Straßen ständig überwachen müssen, ob sie ihre Aufgaben vorschriftsmäßig erfüllten. Und so beschlossen die Stadtverordneten am 29. November 1911 endlich die Errichtung einer städtischen Kehrichtabfuhranstalt. Am 1. April 1912 folgten das entsprechende Ortsstatut und eine Gebührenordnung.51 Dieses Statut wurde Anfang April 1915 durch eine Neufassung abgelöst. Darin wurden unter anderem Hauseigentümer, Mieter und Gastwirte verpflichtet, die neue Abfuhranstalt gegen Gebühr in Anspruch zu nehmen.52
Trotz der insgesamt recht schleppenden Entwicklungen sollte man sich davor hüten, die Koblenzer Innenstadt generell als ungepflegt darzustellen. In den Haushalten war der Wiederverwertungsgrad nämlich wesentlich höher als heute. Abfall fiel nur dann an, wenn Materialien wirklich keinen Nutzen mehr brachten. Ein Blick auf viele Aufnahmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Fotoarchiv des Stadtarchivs Koblenz zeigt: Abgesehen von den Spuren des regen Fuhrverkehrs in der Innenstadt dürften die Straßen nicht schmutziger gewesen sein als heute, zumal die Fäkalien eben nicht in den Straßenraum geleitet wurden. Für die Aufnahme von Exkrementen waren auf vielen Grundstücken gemauerte Abtrittsgruben angelegt worden.
Die Verhältnisse in Koblenz unterschieden sich also nicht von denen in anderen deutschen Kommunen. Carl Hugo Lindemann stellte bereits 1901 fest, dass die Fäkalien in 80,33 Prozent der deutschen Städte in Gruben landeten. Berechnungsgrundlage waren 564 Städte im damaligen Deutschen Reich mit einer Größe ab 5000 Einwohnern. Das erstaunliche Ergebnis: Nur in 18 der untersuchten Kommunen (3,19 Prozent) wurden die Fäkalien direkt in die Schwemmkanalisation geleitet. Ebenfalls eine untergeordnete Rolle spielte die Einleitung der Fäkalien in transportablen Tonnen. Lediglich 24 Gemeinden (4,25 Prozent) hielten zum damaligen Zeitpunkt an diesem System fest. Dem standen 69 Städte (12,23 Prozent) mit einem gemischten System gegenüber – also mit getrennten Kanälen für Fäkalien und anderen Abwässern.53
Auf Gruben setzte man auch im Falle der Müllentsorgung. Ein Motiv hierfür mag gewesen sein, dass eine Abfuhr zu unzuverlässig und perspektivisch zu teuer war. Wie die Ausgrabungen des Landesamtes für Denkmalpflege im Gebiet der Koblenzer Altstadt belegen, gab es für diesen Unrat oft eigene Gruben, die auch noch Ende des 19. Jahrhunderts genutzt wurden. In Koblenz war es also nicht anders als in den meisten deutschen Städten, in denen man nach wie vor Gruben anlegte, um den Hausmüll zu sammeln. Diese Gruben wurden – wenn überhaupt – nur in unregelmäßigen Abständen geleert. Konkrete Zahlen sind aus München überliefert.
1854 gab es in der bayerischen Hauptstadt noch 1735 Müllgruben, in denen „Viehdünger“, Asche und Kehricht lagerten. Diese Gruben wurden nur einmal im Jahr geleert. Dabei wurde der Müll einfach in Körbe oder Karbidtrommeln geschaufelt und in offenen Wagen abtransportiert. Feinmüll wie zum Beispiel Asche rieselte durch und blieb liegen. Auch dort, wo die Müllgruben durch eine geregelte Abfuhr ersetzt worden waren, offenbarten sich schnell die Mängel des Systems. Die Abfuhrwagen waren ebenfalls offen und undicht, sodass der Abtransport oft wie im Falle der Senkgruben in die Nachtstunden verlegt wurde.54
Auch wenn der Zusammenhang von verseuchtem Grundwasser und Krankheiten wissenschaftlich noch nicht eindeutig erklärt und eine Beurteilung der Wasserqualität bis zum Ende der 1870er-Jahre nur nach Farbe, Geruch und Geschmack möglich war55, drängte auch die Koblenzer Verwaltung zunehmend auf die Beseitigung der Abfallgruben und auf einen absolut dichten Ausbau der Fäkaliengruben. Vor allem Landrat Freiherr von Frentz, der gleichzeitig auch der für Koblenz zuständige Polizeidirektor war, setzte sich für einschneidende Maßnahmen ein. Sein „Vortrag über die sanitätspolizeilichen Verhältnisse der Stadt Coblenz, mit Rücksicht auf die Trinkwasser-Frage“ wurde sogar gedruckt. Kein Wunder: Der Landrat referierte vor dem Zweigverein für öffentliche Gesundheitspflege. Der Herausgeber seiner Schrift ist der Frankfurter Arzt Dr. Georg Varrentrapp, der als der wichtigste Initiator des „Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“ und als einer der engagiertesten Vertreter der Hygienebewegung gilt.
Die Ausführungen des Landrats zeigten, dass die im ganzen Reichsgebiet gewonnenen neuen Erkenntnisse eben nicht spurlos an Koblenz vorbeigingen. In dem Aufsatz heißt es unter anderem: „[...] Während man bisher bemüht gewesen ist, alle Kirchhöfe aus den Städten zu entfernen, um nicht die nächstgelegenen Brunnen durch Fäulnisprozesse zu vergiften, ist man wegen der ähnlichen Gefahr bezüglich der Schlinggruben gänzlich gleichgültig geblieben: obgleich man von manchen Städten sagen kann, dass sie mitten auf einem von Fäulnis strotzenden Boden stehen; also ebenso schlimm daran sind, als ob ihre Häuser auf einem Kirchhofe ständen. Da die Schlinggruben selten gereinigt werden, so füllen sie sich stark mit Fäulnisgasen an, welche bei unvollständigem Abschlusse des Abtrittsitzes sich in dem Closett und in die Wohnstuben verbreiten. Man muss erstaunen, wie unvorsichtig und nachlässig man in dieser Beziehung in großen Städten ist und eine große Quelle der schädlichen Gase in den Wohnungen duldet. [...]
Hier in Coblenz ist nur die Anlage von Schlinggruben im Wege der Polizeiverordnung eingeführt; freilich nicht für die Excremente, aber um das Ausgießen des Küchen-, Blut-, Wasch- und Farb-Wassers in die Straßenrinnen zu verhüten. Man übersah bei dieser Anordnung, dass hierdurch eine viel größere Gefahr für die Brunnen herbeigeführt wurde; denn selbst eine Schlinggrube für solche Ausgangsstoffe unterscheidet sich im Wesentlichen nicht viel von einer Kothschlinggrube, da ein solches Wasser stets animalische und andere Abfälle mit sich führt, welche denselben Fäulnisprozess wie die Excremente durchlaufen. [...]“56
Die Kritik des Landrates kam nicht von ungefähr. Die nach wie vor geltende Polizeiverordnung vom 2. Dezember 1852 regelte nur das Reinigen, Ausleeren und Abfahren der Abritte, Kloaken, Senken und Düngergruben. Diese Leerung musste auf polizeiliche Anordnung sofort erfolgen, andernfalls nach Anmeldung beim zuständigen Revier-Sergeanten, wobei eine Frist von sieben Tagen zu beachten war. Geleert werden durfte in den Sommermonaten erst nach 0 Uhr, in den Wintermonaten nach 23 Uhr. Die Räumung der Gruben musste saisonabhängig spätestens um 5 oder 6 Uhr beendet sein. Die Hauseigentümer hatten darauf zu achten, dass die Straßen mit Wasser gereinigt wurden.
Weiterhin hieß es: „[…] Die Ausführung und Abladung darf nur nach polizeilich zulässigen Stellen außerhalb der Städte erfolgen. Die zur Abführung dienenden Karren müssen dicht und wohl verschlossen sein, der Transport flüssiger Jauche darf nur in fest verschlossenen Fässern und Bütten erfolgen. Die Eigentümer der ausgeräumten Gruben sowie Arbeiter sind für alle Contraventionen und Verunreinigungen solidarisch verhaftet, sowohl hinsichtlich der Beseitigung als der Bestrafung. […]“57
Hinsichtlich der Abfallgruben ließ die Polizeiverordnung reichlich Interpretationsspielraum. Ein weiterer Mangel war, dass kein Turnus für die Grubenleerung vorgeschrieben war. Und schließlich wurde das Problem von der Straße weg verlagert. Das belegen auch entsprechende Notizen in den damaligen Koblenzer Tageszeitungen immer wieder. Demnach hatten die in den Innenhöfen gelegenen, nur selten geleerten Fäkaliengruben eine nur unzureichende Bretterabdeckung. Hin und wieder erfahren wir aus Berichten, dass Hausbewohner in diese Gruben hineinstürzten und beinahe ertrunken wären, wenn beherzte Nachbarn sie nicht gerettet hätten.58
Wenn überhaupt, wurden die Gruben von Landwirten und Fuhrunternehmern geleert, die den Unrat einfach in Fässer füllten und dann abtransportierten. Der Inhalt der Abortgruben diente zur Düngung der Felder in der Umgebung. Auch in diesem Fall waren es Bauern aus Neuendorf, die den „Naturdünger“ aus der Stadt nutzten.59 Erst Anfang der 1870er-Jahre setzte sich in Koblenz ein von der Kommune errichtetes Institut für die mechanische Entsorgung durch.60 Die dazugehörigen Maschinen wurden im Frühjahr 1872 angeschafft. Hersteller war die Kölner Firma Friedrich Duden & Comp. Die neuen Geräte waren zwar städtisches Eigentum, wurden aber nicht von kommunalen Bediensteten bedient.
Im Mai 1872 schloss die Stadt Koblenz zunächst einen Dreijahresvertrag mit dem Metzger Josef Römer, dem Fuhrmann Heinrich Wallenborn, dem Ortsvorsteher Johann Höfer und dem Ackerer Jakob Grebel aus Metternich. Die Männer sollten für eine ordnungsgemäße Latrinenreinigung mit den neuen Maschinen sorgen. Wer den Reinigungsdienst in Anspruch nehmen wollte, musste sich in Listen eintragen. Wo diese ausgelegt waren, wurde in der Tagespresse bekannt gegeben. Der Einsatz folgte dann nach der Reihenfolge der Anmeldungen.61
Auch die neue Technik hatte ihre Tücken. So berichtete die „Coblenzer Volkszeitung“: Bei der in der Stadt eingesetzten „sogenannten geruchlosen Latrinenreinigungs-Maschine erwies sich, wie dies leider schon oft geschehen, die Ironie dieser Bezeichnung einmal wieder in der ekelhaftesten Weise, indem das Odeurfass platzte und gänzlich auseinander ging. Die demselben entströmenden Wohlgerüche füllten für einige Stunden die Luft mit einem unaussprechlichen Parfüm, vor welchem Thor und Thür, Fenster und Luftklappe geschlossen wurden und die Menschen mit geflügelten Schritten die Nase in der Hand Reißaus nahmen.“62
Meldungen wie diese waren kein Einzelfall. Schließlich sah sich die Königliche Polizeidirektion genötigt, die Polizeiverordnung vom 2. Dezember 1852 zu erweitern. In der „ergänzenden Polizeiverordnung“ vom 23. Juni 1881 durften Latrinen nur noch dann von Schlauch-Pumpapparaten gelehrt werden, wenn dies von der örtlichen Polizeibehörde genehmigt war. Darüber hinaus wurde vorgeschrieben, 24 Stunden vor der Latrinenreinigung den Inhalt mit „holzessigsaurem Eisenoxyd oder Carbolsäure“ zu desinfizieren.63
Wie es mit den öffentlichen Toiletten in der Stadt aussah, ist in den Quellen nur sporadisch überliefert. Fest steht, dass Ende des 19. Jahrhunderts öffentliche Bedürfnisanstalten errichtet wurden. Dass es früher ambulante Abtrittanbieter mit verstecktem Eimer wie zum Beispiel in Edinburgh, Frankfurt am Main oder Hamburg gab64, dürfte angesichts der recht bescheidenen Dimensionen der Stadt auszuschließen sein. Allerdings gab es auch im Koblenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts mehrere öffentliche Bedürfnisanstalten, zum Beispiel am Plan, auf dem Görresplatz und am Löhrrondell. Es handelte sich um sogenannte Pissoirs, die ausschließlich Männern vorbehalten waren. Diese Anlagen bestanden aus Blech und wurden nicht ständig gewartet, sodass in unmittelbarer Nähe unangenehme Gerüche entstanden.
Bis es in der Stadt Anlagen für Frauen und Männer mit ständiger Wartung gab, sollte es noch bis in die 1950er-Jahre hinein dauern. Wie andernorts auch setzte man in Koblenz bis weit in die 1880er-Jahre hinein darauf, das Reinigungs- und Entsorgungsproblem den Bürgern und privaten Anbietern zu überlassen. Lange beschränkte man sich darauf, Straßenreinigung und Müllbeseitigung mit Ortsstatuten und Polizeiverordnungen zu regeln. Sie waren der rechtliche Rahmen, in dem die beauftragten Unternehmen überwacht werden sollten. Mit zunehmendem Wachstum der Kommunen – wie es sich auch am Beispiel der Koblenzer Stadterweiterung zeigt – stellte sich schnell heraus, dass die private Organisation der Entsorgung viel zu leistungsschwach war. Auf der anderen Seite fehlten den Gemeinden die finanziellen Mittel, um leistungsfähige kommunale Strukturen aufzubauen. Es gab lange Zeit einfach keine einheitliche rechtliche Handhabe, die Bürger an den Entsorgungskosten zu beteiligen. Das sollte sich mit dem preußischen Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893 radikal ändern.65
Von nun an war es möglich, von den Bürgern Gebühren für Straßenreinigung und Müllabfuhr zu erheben. Diese Neuerung gab den Kommunen überhaupt erst die Möglichkeit, im Rahmen ihres Aufbaus der Leistungsverwaltung stufenweise starke Eigenbetriebe für die Stadtreinigung aufzubauen.66 Ein anderer Aspekt war, dass man die Bürger nun auf einer gesicherten rechtlichen Grundlage verpflichten konnte, bestimmte kommunale Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Dies dokumentiert auch die Koblenzer Polizeiverordnung vom März 1896, in dem Grundeigentümer endgültig dazu verpflichtet wurden, ihre bebauten Parzellen an die neue städtische Wasserleitung anschließen zu lassen.67
Erstaunlich lange hielt sich dagegen das alte Prinzip, die Bürger praktisch an der Reinhaltung ihrer Stadt zu beteiligen. Dieser Grundsatz wurde in der Polizeiverordnung vom Juli 1902 noch einmal betont68 und im Juni 1905 auf die neuen Stadtteile ausgedehnt.69 Immerhin kümmerte sich die Stadtverwaltung auch weiterhin um die Abfuhr des von den Bürgern angehäuften Kehrichts. So wurden im März 1902 zwölf von der Firma Salubrita hergestellte Kehrichtwagen gekauft und am 1. April im ganzen Stadtgebiet in Betrieb genommen.70
In Koblenz arbeitete man nach einem ähnlichen Prinzip wie in Bonn. Weil man noch die Gründung eines Eigenbetriebes oder Amtes für Stadtreinigung und -entsorgung scheute, nahm man nur die unbedingt erforderlichen Investitionen vor. So kam es zu der aus heutiger Sicht sehr merkwürdigen Konstruktion, dass die Stadt zwar die Kehrichtwagen stellte, die Zugtiere und das zur Bedienung der Geräte und zur Reinigung der öffentlichen Plätze benötigte Personal aber weiterhin von privaten Unternehmern gestellt wurden. Der Tatsache, dass dies nur eine Übergangslösung sein konnte, war man sich durchaus bewusst. So übernahm man in Bonn bereits am 1. April 1902 die eingesetzten Arbeiter in städtische Dienste.71
Während sich in den größeren Städten wie zum Beispiel Nürnberg relativ schnell kommunale Betriebe bildeten, die nach der Einführung der Müllabfuhr der Abfallentsorgung in den Gruben der Hinterhöfe ein schnelles Ende bereiteten, sollte es in Koblenz noch einige Zeit dauern, bis die Stadt die Entsorgung selbst übernahm – und das, obwohl man sich bereits früh in anderen preußischen Städten, zum Beispiel in Aachen, Duisburg, Köln und Mülheim an der Ruhr, über die Organisation des dortigen Abfuhrwesens informiert hatte. Dennoch vertraute man weiterhin den privaten Fuhrunternehmen. Immerhin machte die Polizeiverordnung vom Juli 1902 endgültig den Weg für das damals noch relativ neue System der „staubfreien“ Abfuhr frei. Damit setzte sich endgültig die regelmäßige Abfuhr des Hausmülls durch. Die Gefäße konnten nun in geschlossenen Müllkutschen entleert werden. Dieses System hatte sich 1905 auch in Koblenz etabliert.72
Wie diese Pferdefuhrwerke aussahen, hat Rolf Pohle wie folgt beschrieben: „Die oben offenen Kastenwagen waren auf Federn gebaut und mit einem durchlaufenden Vordergestell versehen. Auf beiden Seiten und an der Rückfront waren Doppeltüren für den Belade- und Entleerungsvorgang angebracht. Die Kastenhöhe betrug 4 m, die Breite 1,35 m und der Laderaum 4 cbm. Die Gesamthöhe von Grund bis Kastenoberkante lag bei 2,05 m und das Leergewicht [bei] 1,74 t. Am Kastenwagen befand sich ein mit Rollen verschiebbarer Rahmen, auf dem ein viertelkreisförmiges Schutzgehäuse angebracht war. In diesem drehte sich eine Kippmulde zur Aufnahme des zu entleerenden Müllgefäßes. Am hinteren Rahmen bildete ein Querschütz den Abschluß. Der vordere Rahmenteil stand in Verbindung mit einem Wellblechrolladen. Beim Verschieben des Rahmens nach rückwärts wurde der Rolladen nachgezogen und somit war der Kastenwagen deckelartig nach oben abgeschlossen und eine ,staubfreie Abfuhr‘ erreicht. Diese Rolladenkonstruktion war patentiert (DRP). Beim Beladevorgang stand ein Mann an der Kippmulde im Wagen, dem ein zweiter Mann das volle Müllgefäß übergab. Das Müllgefäß wurde in die Kippmulde eingeschoben. Mit einer Kurbel erfolgte eine halbe Umdrehung zur Entleerung der Gefäße. Zunächst wurde im Fahrzeug selbst das erste Drittel des Kastens befüllt. Dann mußte mit einer Winde der Rahmen mit Schütz- und Kippvorrichtung nach hinten verschoben werden. Hierbei zog sich gleichzeitig der Rolladen nach und dichtete den Wagen nach oben staubdicht ab. Im Zuge der weiteren Beladung konnte in gleicher Weise auch das letzte Drittel befüllt werden. Bei der Entleerung des Fahrzeuges auf der Mülldeponie öffnete das Personal die drei Türen nach vorheriger Entfernung des Schutzes und entsprechender Verschiebung des Rahmens, wobei der Rolladen sich selbsttätig wieder aufrollte.“73
Eine Alternative zum beschriebenen System war das sogenannte Wechseltonnensystem, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals in Kiel eingeführt wurde. Wie der Name schon sagt, tauschte man volle „Einheitsmülltonnen“ in einem fest geregelten Turnus gegen leere aus. Auch in Koblenz liebäugelte man zunächst mit diesem System und ließ sich Unterlagen aus Freiburg kommen. Allerdings entschied man sich am Ende doch für die „staubfreien“ Abfuhrsysteme. Beide Varianten führten am Ende dazu, dass die Müllgefäße genormt waren und damit einheitliche Größen erhielten.
In allen Fällen handelte es sich um eine deutsche Weiterentwicklung eines Müllentsorgungssystems, das seine Anfänge ebenfalls in England genommen hatte. Von entscheidender Bedeutung waren auch die Fortschritte in der Fahrzeugtechnik, die eine staubfreie Entsorgung des Hausmülls – der meistens einen starken Anteil von Heizrückständen aus den Öfen enthielt – überhaupt erst möglich machte. Erledigten die Aufgabe des Transports lange Zeit die Pferdefuhrwerke, wurde 1911 mit der Inbetriebnahme eines elektrisch angetriebenen Wagens eine neue Ära eingeleitet.
Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden in Hamburg die ersten Müllabfuhr-Automobile in Betrieb genommen. Nach dem Krieg war es dann die Friedrich Krupp AG, die die ersten Großraum-Müllfahrzeuge herstellte.74 Trotz aller ungelösten Umweltprobleme sollte sich Deutschland in den 1920er-Jahren zu einem Vorbild entwickeln, denn die geregelte und staubfreie Entsorgung von Müll in standardisierten Gefäßen war längst nicht überall selbstverständlich.75
Auch im Deutschen Reich selbst hatten längst nicht alle Städte dieses System eingeführt. So hatten sich 1934 nur 28 der 51 deutschen Städte über 100.000 Einwohner für die staubfreie Müllentsorgung entschieden, von den 48 größeren Mittelstädten sogar nur 22. In den 164 kleinen Mittelstädten mit einer Größe von 20.000 bis 50.000 Einwohnern sah die Relation noch schlechter aus: Nur 44 dieser Städte hatten sich für das System entschieden. Eine zu vernachlässigende Größe waren die Kleinstädte. Nur 31 von ihnen entsorgten ihren Müll staubfrei.76
Das Frankfurter Beispiel zeigt, dass der Trend zur kommunalen Entsorgung schon lange vor der entsprechenden Gesetzgebung eingesetzt hatte. Bereits 1872 wurde in der Stadt ein eigenes Fuhramt gegründet, aus dem sich 1902 schließlich ein städtischer Eigenbetrieb bildete. Dort gab es anfangs vor allem ein Problem nicht – die Müllberge vor den Toren der Stadt.
Die enormen Mengen von Hausmüll im heutigen Sinne sollten erst mit der fortschreitenden Industrialisierung und dem Trend zum Fertigprodukt entstehen. Ursprünglich war die Deponierung durchaus geeignet, den meist natürlichen Müll in den Griff zu bekommen. Und wieder war es in Frankfurt, wo bereits früh Alternativen zu den wachsenden Müllhalden vor den Toren der Stadt entwickelt wurden. Bereits 1901 dachte man über den Bau einer Verbrennungsanlage nach, um die wachsenden Mengen des nicht verwertbaren Mülls Herr zu werden. In England war man zu dieser Zeit noch wesentlich weiter. 1896 waren auf der Insel bereits 70 Müllverbrennungsanlagen in Betrieb. Die erste deutsche Müllverbrennungsanlage wurde 1894 in Hamburg errichtet. Sie hatte 36 Ofenzellen.77
Weitere Anlagen folgten zum Beispiel 1904 in Beuthen, 1905 in Kiel und Wiesbaden. Ebenfalls 1905 beschloss man in Frankfurt, das im Bereich der Abwasserreinigung im Deutschen Reich eine Vorreiterstellung eingenommen hatte, den Bau einer kombinierten Müll- und Schlammverbrennungsanlage. Dieses System sollte auf dem europäischen Kontinent das erste seiner Art sein. Vier Jahre später wurde die neuartige Anlage in Betrieb genommen. Schließlich wurden 60 Prozent des Hausmülls dort verbrannt. Allerdings galt die Technologie der Anlage schnell als teuer und überholt, sodass sie 1923 abgestellt wurde. Die Müllverbrennungsanlagen jener Zeit arbeiteten nur dann reibungslos, wenn ihnen erhebliche Mengen Brennstoff zugeführt wurden. Die Heizabfälle reichten dazu bei Weitem nicht aus, weil in Deutschland überwiegend mit Braunkohle geheizt wurde. Anders England: Dort wurde überwiegend mit Steinkohle geheizt, deren Rückstände sich in den Verbrennungsanlagen besser verwerten ließen.78
Schließlich schwenkte die Frankfurter Verwaltung auf das Konzept stadtnaher Deponien um, das sich wiederum zu einer erheblichen Belastung entwickeln sollte.79 Mit diesem Problem stand Frankfurt natürlich nicht allein. Auch andere Städte rückten von der Müllverbrennung ab oder verzichteten auf den Bau entsprechender Anlagen. Ein Beispiel hierfür ist Nürnberg, wo man ursprünglich auf die thermische Müllverwertung zur Energieerzeugung setzte, sich aber spätestens 1934 von den ehrgeizigen Plänen verabschiedete.80
1910 ergab eine Umfrage der Zentralstelle des Deutschen Städtetags, dass von 120 Städten mit mehr als 25.000 Einwohnern 115 auf die Müllablagerung ohne besondere Schutzmaßnahmen setzten – und das, obwohl schon damals Hygieniker vor dramatischen Folgen für Wasser, Boden und Luft warnten.81 Über viele Jahre wurde der Müll einfach in abgebaute Kies- und Tongruben gebracht oder in aufgegebenen Steinbrüchen und nicht mehr genutzten landwirtschaftlichen Flächen gelagert. Gab es im Umland keine Möglichkeit, den Unrat auf diese Weise zu entsorgen, entstanden Müllhügel, wie dies zum Beispiel in Leipzig der Fall war.82
Auch wenn sich in den meisten Städten die unkontrollierte Deponierung durchgesetzt hatte, dachte man schon sehr früh intensiv über eine Wiederverwertung von Abfällen nach. So wurde bereits 1907 in Charlottenburg nach dem amerikanischen Vorbild die geteilte Müllabfuhr eingeführt, und dreiteilige Müllbehälter wurden aufgestellt. Asche und Kehricht sowie Küchenabfälle und sonstiger Müll wurden getrennt abgefahren.83
Die ersten frühen Systeme zur Mülltrennung wurden schließlich ausgebaut – vor allem in Notzeiten, als sich infolge der Kriegsvorbereitung und -führung der Rohstoffmangel bemerkbar machte. Eine teilmechanische Sortieranlage wurde bereits 1898 von einem privaten Unternehmen in Puchheim bei München in Betrieb genommen. Das Verfahren wurde ebenfalls aus den USA importiert, wo es sich durchgesetzt hatte. In Deutschland blieb diesen Systemen eine flächendeckende Einführung verwehrt, weil sie im Vergleich zu Deponierung, Kompostierung und Verbrennung nicht wirtschaftlich genug erschienen. Somit wurden wieder einmal die Weichen in eine falsche Richtung gestellt, zumal in den Deponien – wenn überhaupt – die Probleme rund um Sickerwasser und Geruchsbelästigung nur unter Einsatz sehr primitiver Untergrundabdichtungen gelöst wurden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die ersten „geordneten“ Deponien mit einer Basisabdichtung aus Lehm und Kunststoffplanen angelegt.84
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