Frühe Geschichte der Stadthygiene
aus Koblenzer Sicht
1. Der Forschungsstand
Als Heide Berndt 1987 die Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts als vergessenes Thema der Stadt- und Architektursoziologie darstellte1, war es in der Tat so, dass sich die Summe neuerer Beiträge zur Geschichte der Stadthygiene2 – trotz vielerorts sehr guter Quellenlage – in bescheidenen Dimensionen bewegte. Publikationen wie der von Walter Artelt und anderen 1969 herausgegebene Vortragsband zur Städte-, Wohnungs- und Kleiderhygiene des 19. Jahrhunderts zählten zu den Ausnahmen.3 Freilich gilt diese Aussage nur für die historische Forschung in den vier Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis weit in die 1930er-Jahre hinein war Hygiene in den unterschiedlichsten Disziplinen ein beliebtes Thema, das erst seit wenigen Jahren in der deutschen historischen Forschung eine Renaissance erlebt.
Es waren zunächst ausländische Historiker, die entscheidende Impulse gaben. Besonders in Paris – dort trat bereits 1794 Jean-Noël Hallé sein Amt als Inhaber des ersten französischen Lehrstuhls für Hygiene an – reicht die hygienegeschichtliche Tradition wesentlich weiter zurück. Das liegt sicherlich auch daran, dass in Deutschland dieser Disziplin lange der Makel der Ideologisierung in der NS-Zeit anhaftete. Der Pariser Professor Georges Vigarello konnte ebenso wie „Geruchs-Historiker“ Alain Corbin4 aus dem Vollen schöpfen. Ergebnis: sein Ende der 1980er-Jahre erschienenes Standardwerk „Wasser und Seife, Puder und Parfüm“, das 1992 auch in Deutschland weite Verbreitung fand.5
Eine noch weit größere Wirkung hatten die Forschungen des Londoner Professors Richard J. Evans, der mit seiner 1990 veröffentlichten Monografie über die Cholera-Katastrophe von 1892 „Der Tod in Hamburg“ eine regelrechte Welle der Begeisterung für einen neuen Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte auslöste und gleichzeitig seinen deutschen Kollegen signalisierte, dass Forschungsergebnisse durchaus in Form eines spannenden Buches präsentiert werden können.6 Allerdings war zu dieser Zeit auch in Deutschland die Diskussion um das Thema „Stadt und Gesundheit“ schon seit einiger Zeit in vollem Gange, wie zum Beispiel die gleichnamige Sammlung von wissenschaftlichen Aufsätzen zeigt.7 Und: Der strukturelle und rechtliche Wandel in den deutschen Städten des 19. Jahrhunderts ist seit den 1960er-Jahren ein großes Thema.
Neben Untersuchungen über die gesellschaftlichen Veränderungen im Rahmen der Bürgertumsforschung8 sind dies Studien über die Veränderungen in der kommunalen Administration zur „kommunalen Leistungsverwaltung“, wie es Hendrik Gröttrup in seiner überwiegend verwaltungsrechtlich orientierten Schrift bereits 1973 formulierte.9 In diesem Zusammenhang seien der von Lothar Gall herausgegebene Band über das städtische Bürgertum10 und Wolfgang Krabbes Habilitationsschrift genannt. Der Historiker thematisiert am Beispiel der Städte Dortmund und Münster auch die Themen Wasserversorgung und Kanalisation.11
Die „deutsche Antwort“ auf Richard J. Evans gab Olaf Briese 2003 mit seiner Habilitationsschrift „Angst in den Zeiten der Cholera“.12 Die kultur- und sozialgeschichtlich ausgelegte Tetralogie beinhaltet neben der klassischen Darstellung auch drei Quellenbände. In seiner auch stilistisch herausragenden Analyse legt Olaf Briese den Schwerpunkt auf die erste Choleraepidemie, die ab 1830 Europa mit Angst und Schrecken erfüllte. Die weiteren Wellen der oft tödlich verlaufenden Infektionskrankheit werden dagegen weniger intensiv behandelt, was Christoph Gradmann in seiner Rezension bemängelt. Ein weiterer Kritikpunkt des Heidelberger Medizinhistorikers, der zwei Jahre später selbst ein Werk über Robert Koch publizierte13: Der berühmte deutsche Bakteriologe nehme in der Arbeit Brieses „monumentale Züge“ an.14
Das zunehmende allgemeine Interesse für Medizin- und Technikgeschichte bewirkte ein rapides Ansteigen der Publikationen seit den frühen 1990er-Jahren. Wie die Dissertation von Jürgen Büschenfeld zeigt, spielt dabei auch die Entwicklung des Umweltschutzes eine wichtige Rolle.15 Es liegt in der Natur der Sache, dass bei den Untersuchungen zunächst die Städte von europäischer Bedeutung im Mittelpunkt standen. Die Geschichte von Kanalisation, Trinkwasserversorgung und Krankenhauswesen in Großstädten wie Berlin, Frankfurt, Hamburg und München sind heute bestens erforscht, zumal die Darstellung im großen hygienegeschichtlichen Kontext erfolgt. Für diesen Ansatz steht exemplarisch Thomas Bauers Dissertation über die Frankfurter Kanalisation von 1996.16
Die meisten Studien haben gemeinsam, dass der Schwerpunkt auf den Entwicklungen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges liegt. In den Publikationen, in denen kleinere Städte und Gemeinden im Mittelpunkt stehen, ist das anders. Kein Wunder: Oft wurden diese Beiträge von regionalen Versorgungs- und Entsorgungsunternehmen initiiert oder sogar in Auftrag gegeben, wie es sich vor allem am Züricher Beispiel vorbildlich zeigt.17 Die Folgen sind durchaus positiv: Historiker entdecken die Technik, Ingenieure und Naturwissenschaftler die Geschichtswissenschaften. Ein besonders gelungenes Beispiel ist die 2002 an der Freiburger Fakultät für Biologie eingereichte Dissertation von Jörg Lange über die Geschichte des Gewässerschutzes am Ober- und Hochrhein18, die eben nicht nur aktuelle Probleme des Umweltschutzes im Blick hat, sondern die Entwicklungen bis ins Mittelalter zurückverfolgt.
Jörg Langes Studie nimmt vieles vorweg, was Anne Hardy in ihrer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung19 gelobten Darmstädter Dissertation ausführt.20 Dennoch sollte die von Anne Hardy 2005 veröffentlichte Arbeit als ein bedeutender Beitrag zur hygienegeschichtlichen Forschung bewertet werden, beruht sie doch auf einer gründlichen Auswertung der großen Hygienedebatten des 19. Jahrhunderts mithilfe der zahlreichen Beiträge in den Fachzeitschriften jener Zeit. Dabei macht die Historikerin nicht den Fehler, die technischen Entwicklungen außer Acht zu lassen. Im Gegenteil: Trinkwasser und Abwasser sind für Anne Hardy ebenso Thema wie die Errichtung von Schlachthöfen oder Desinfektionanstalten. Und schließlich werden die Reformen im Wohnungsbau untersucht. Da die Studie das ganze Reichsgebiet betrifft und auch die europäischen Zusammenhänge nicht vernachlässigt, ist sie eine wichtige Hilfe bei der Einordnung regional ausgerichteter Untersuchungen in den Gesamtkontext.
Außerdem gelingt Anne Hardy der Nachweis, dass die Hygienebewegung die „Assanierung“ in den Städten zwar beschleunigt, nicht aber ausgelöst hat (was sich auch am Koblenzer Beispiel gut belegen lässt). Jörg Vögel bezweifelte jedoch, dass diese Erkenntnis wirklich neu ist. In seiner Rezension spricht er von einer „holzschnittartigen“ Abarbeitung und betont, dass ebendiese Sichtweise schon seit längerer Zeit in der Forschung etabliert sei.21 Exemplarisch verweist Jörg Vögele auf die älteren Arbeiten von Reinhard Spree22 und Paul Weindling23.
Dennoch: Die Zahl der Arbeiten, die sich mit der „Assanierung“ deutscher und europäischer Städte auseinandersetzen, dürfte – motiviert durch Untersuchungen wie die von Anne Hardy – in den nächsten Jahren noch steigen, zumal das Interesse an Umweltgeschichte stark gestiegen ist. Das dokumentiert sich ebenfalls in der Einrichtung des Graduiertenkollegs „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“ an der Universität Göttingen.24
Im Zuge der Neuentdeckung der Alltagsgeschichte hat sich auch die medizinhistorische Forschung verändert. Standen früher Mediziner und ihre bahnbrechenden Entdeckungen im Mittelpunkt, rücken seit den 1980er-Jahren zunehmend die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge ins Blickfeld. Man spricht jetzt auch über die so genannte „Medikalisierung“ als Spezialdisziplin der Sozialgeschichte. Der Begriff steht ursprünglich für einen gesellschaftlichen Prozess, in dem sich die akademische Heilkunde am Ende durchgesetzt hat. Francisca Loetz hat die neueren Forschungsansätze in ihrer Dissertation am Beispiel von Baden aufgezeigt.25 Sie liefert auch die Argumente, die für Jörg Vögeles Kritik sprechen: Francisca Loetz relativiert den Einfluss wissenschaftlicher Kontroversen auf den damaligen „Versorgungsalltag“ und stellt die Handelnden nicht als Träger bestimmter medizinischer Lehren vor, sondern ihr „Leistungsangebot“.26
In Koblenz wurde erfreulich früh damit begonnen, die Entwicklung einer „Gesundheits-Infrastruktur“ zu beleuchten. Der Koblenzer Archivdirektor Max Bär veröffentlichte bereits 1922 in seiner Monografie zur Koblenzer Stadtgeschichte Details zur Entstehung moderner Ver- und Entsorgungssysteme.27 Im Mittelpunkt standen allerdings weniger die technischen Entwicklungen, sondern vielmehr die historischen, politischen und rechtlichen Voraussetzungen. Die Einbindung in den überregionalen Kontext fehlt jedoch. Ebenfalls in den 1920er-Jahren entstand die Arbeit von H. Schubert über die preußische Regierung in Koblenz. In dieser Studie geht es vor allem um verwaltungsrechtliche Entwicklungen. Dennoch wird die Seuchenproblematik ebenso angeschnitten wie die Organisation des Gesundheitswesens im Regierungsbezirk Koblenz. Wie bereits Max Bär gründet auch H. Schubert28 seine Untersuchung auf eine solide Auswertung der ungedruckten Quellen.
Wer sich mit der lokalen Geschichtsschreibung befasst, wird schnell feststellen, dass ernsthafte Versuche, eine „Alltagsgeschichte“ für Koblenz zu schreiben, schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg begannen. Allerdings finden sich die Beiträge oft an sehr entlegenen Stellen – wie das Beispiel von Andreas Schüller zeigt. Seine knappen Untersuchungen erschienen hauptsächlich in den verschiedenen Geschichtsbeilagen der örtlichen Tageszeitungen. Dieser recht fortschrittliche Ansatz geriet in Vergessenheit und wurde erst mit dem „Siegeszug“ der Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit dem Ende der 1970er-Jahre neu entdeckt. Den Anfang machte die Dissertation des späteren Pariser Professors Etienne François über Koblenz im 18. Jahrhundert.29 Er widmete sich allerdings vor allem der Erstellung einer Sozialtopografie für die unterschiedlichen Quartiere im heutigen Altstadtgebiet.30 Die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Bevölkerung und Aspekte der Stadthygiene werden zwar angeschnitten, aber nur der Vollständigkeit halber thematisiert. Ähnliches gilt auch für die Dissertation von Busso von der Dollen über die Koblenzer Neustadt. Sie nimmt zwar die Aspekte der Sozialtopografie auf, ist aber in erster Linie als Beitrag zur vergleichenden Residenzforschung zu betrachten31, sodass man heute immer noch auf den vom Koblenzer Arzt Hans Bellinghausen herausgegebenen Sammelband zur Koblenzer Stadtgeschichte angewiesen ist. Dort sind allerdings die Aspekte der Ver- und Entsorgung nur sehr allgemein beschrieben.32 Ähnliches gilt für die zweibändige Folgepublikation, die zur 2000-Jahr-Feier von Koblenz 1992 und 1993 herausgegeben wurde.33
Obwohl die Energieversorgung Mittelrhein das „Jubiläums-Projekt“ in erheblichem Umfang finanzierte, werden die technischen Errungenschaften, die seit dem 19. Jahrhundert eine moderne Stadt überhaupt erst funktionsfähig machen, nur am Rande erwähnt oder gar nicht behandelt. Dennoch: Das Stadtjubiläum hat einiges bewirkt. In der Folgezeit wurden viele Themen der örtlichen Geschichte völlig neu bearbeitet, was in den seit den 1970er-Jahren zu beobachtenden gesamtdeutschen Trend zur Stadtgeschichtsforschung passt.34 Dabei dominieren in Koblenz neben wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen vor allem bau- und kunsthistorische Arbeiten – wenn man einmal von Ulrike Grundmanns gründlicher Dissertation über die frühe Koblenzer Krankenhausgeschichte und Thomas Tippachs Studie über die Garnisons- und Festungsstadt absieht.35 Eine besondere Rolle spielen die Arbeiten zur Koblenzer Festungsgeschichte, von denen die Dissertation von Klaus Weber hervorzuheben ist.36 Erst kürzlich hat Manfred Böckling in seinem Aufsatz dieses Spezialgebiet um Fragen der Ver- und Entsorgung im Bereich der preußischen Festung Ehrenbreitstein erweitert.37 Hinzu kommt die Tatsache, dass die Sanierung der Koblenzer Altstadt und des Stadtteils Ehrenbreitstein seit den frühen 1980er-Jahren auch in der Forschung das Interesse für die früheren Lebensbedingungen der Menschen geweckt hat. Stadtverwaltung, Denkmalfachbehörde sowie die örtlichen Ver- und Entsorger haben dieses Interesse durch Vergabe entsprechender Projekte gefördert.
Fazit: Die Koblenzer Stadthistorie ist heute gut erforscht. Die Literatur erleichtert den Einstieg in neue landes- oder sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichtete Projekte. Allerdings ist in jüngster Vergangenheit ein Nachlassen des Interesses an stadtgeschichtlichen Projekten zu erkennen. Dies mag auch an der Neustrukturierung des Geschichtsstudiums liegen. Örtliche Historiker klagen, dass der Wunsch nach stadt- und regionalgeschichtlich orientierten Abschlussarbeiten nachgelassen hat.
2. Zur Quellenlage
Die Quellengrundlage für den großen Forschungsbereich Stadthygiene ist in Koblenz ausreichend. Allerdings gestaltet sich die Auswertung des Materials, das überwiegend im Landeshauptarchiv Koblenz und im örtlichen Stadtarchiv zu finden ist, wenig komfortabel. Sieht man von den frühen Quellen über das Bürgerhospital oder den Choleraakten ab, sind Unterlagen mit geschlossenen Vorgängen eher selten. Das gilt vor allem für Wasserversorgung und Kanalisation.
Die Erweiterung der Netze ist zwar in den gedruckten Verwaltungsberichten dokumentiert, Details über konkrete Baumaßnahmen sind jedoch selten. Die Problematik ist somit ganz ähnlich wie bei den frühen Bauakten, deren Bedeutung für die historische Forschung in Registraturen und Archiven lange Zeit unterschätzt wurde. Die Folge: Viele Unterlagen wurden nach Abschluss der Arbeiten nachlässig gelagert und zum Teil sogar vernichtet. Im Falle der Koblenzer Innenstadt sind die Lücken relativ leicht über Sekundärquellen zu erschließen, in den Stadtteilen, die ursprünglich nicht zu Koblenz gehörten, stößt diese Möglichkeit schnell an ihre Grenzen. Hier müssen die Einzelmaßnahmen in der Regel aus den Akten der Bezirksregierung Koblenz38 oder des Oberpräsidiums der Rheinprovinz erschlossen oder rekonstruiert werden.
Da die Gemeinden schon in der Vergangenheit die Wasserversorgungssysteme immer wieder dem steigenden Bedarf angepasst haben, scheint das Bedürfnis, das Gewesene für immer in den Akten festzuhalten, gering gewesen zu sein. Ausführliche Beschreibungen von Wasserleitungen sind selten. Die Regel ist, dass Akten der verschiedensten Behörden „durchforstet“ werden müssen, will man wenigstens die wichtigsten Informationen über die Situation erhalten. In den meisten Akten sind nur wenige Informationen brauchbar, das äußerst mühevolle Zusammenfügen von kleinen und kleinsten Mosaiksteinen beginnt. Etwas besser sieht es im Falle der technischen Neuerungen nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Die Quellen sind jedoch nicht öffentlich, weil sie nach wie vor Arbeitsgrundlage für die Ingenieure in der Bauverwaltung sind.
Auch die Hausakten des Eigenbetriebs Stadtentwässerung und der Energieversorgung Mittelrhein als Betriebsführerin der „Vereinigten Wasserwerke“ beantworten nicht alle Fragen, weil die allgemeinen Entwicklungen nicht festgehalten wurden. Ein Grund hierfür mag im System der kommunalen Selbstverwaltung zu finden sein: Geplante Veränderungen oder Investitionen werden nur bis zur Veröffentlichung der jeweiligen Beschlussvorlagen für den Stadtrat dokumentiert. Was dann wirklich passiert ist, kann in den meisten Fällen nur mithilfe der Tagespresse rekonstruiert werden. Besonders deutlich wird das am Beispiel des Gemeinschaftsklinikums Koblenz-Mayen, zu dem der Kemperhof heute gehört. Über die jüngere Vergangenheit gibt es nur wenig zugängliches Material – die Borromäerinnen, die jahrzehntelang alle wichtigen Ereignisse im Bürgerhospital und in den „städtischen Krankenanstalten“ in einer Chronik festhielten, verließen das Krankenhaus 1973. Die seitdem klaffenden Lücken konnten nur durch Befragung der glücklicherweise sehr kooperativen Verantwortlichen geschlossen werden. Recht komfortabel gestaltet sich die Rekonstruktion der jüngsten Vergangenheit: Das Archiv der Rhein-Zeitung wird seit 1996 elektronisch geführt. Seit 2001 ist es sogar möglich, ganze Originalseiten via „E-Paper“ aus dem Internet zu ziehen.39
3. Seuchenherde in der Altstadt
Miserables Trinkwasser, katastrophale hygienische Verhältnisse, Wohnen ohne Licht und Luft: Diese Schlagworte fallen oft, wenn man über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit spricht. Schlechte Lebensbedingungen in größeren Orten wurden aber vor allem im 19. und im frühen 20. Jahrhundert zum ernsthaften Problem. Deshalb diskutierten Wissenschaftler, Ingenieure und Verwaltungsbeamte immer wieder über die Verbesserung der Ver- und Entsorgungseinrichtungen in den überfüllten Innenstädten. So auch in Koblenz.
Die Hauptstadt der Preußischen Rheinprovinz war keine Großstadt, auch fehlte weitgehend die Industrie. Trotzdem gab es große Probleme mit der Hygiene, denn der Gürtel der preußischen Festung war recht eng, die durchaus vorhandenen bebaubaren Flächen in der heutigen Innenstadt waren militärischen Nutzungen vorbehalten. Vor allem im Bereich der heutigen Altstadt war deswegen die Überbelegung der Wohnungen an der Tagesordnung. Da sich das Kriegsministerium in Berlin lange Zeit gegen die Öffnung der Festungsmauern und damit auch gegen eine Erweiterung der Rhein-Mosel-Stadt sperrte, kam es zur Errichtung von Nebenhäusern und zur Aufstockung von Gebäuden.
Angesichts einer steigenden Nachfrage ließen die Eigentümer Mängel der alten Bausubstanz – wenn überhaupt – nur provisorisch beheben, erhöhten aber gleichzeitig die Mieten erheblich. Auch nach der Aufgabe der preußischen Stadtbefestigung reichten in den Kernbereichen von Koblenz die sanitären Einrichtungen für die Bewohner der Wohnbauten nicht aus. Die üblen Zustände wurden durch nachträgliche Renovierungen nur kaschiert. Um dies zu belegen, muss man nicht einmal die Quellen der Frühen Neuzeit bemühen. Schon die Bauakten zeigen, dass es vor allem in den Kernbereichen der Altstadt um die sanitären Verhältnisse in den Häusern nicht zum Besten stand. So beklagte im Januar 1907 eine Bewohnerin des Hauses Mehlgasse 18 bei der Baupolizei das Fehlen einer Toilette mit Wasserspülung. In der Meldung der Behörde heißt es: „[...] Der Abort liegt innerhalb der Wohnung und es führt die Tür desselben ins Schlafzimmer. Als Entlüftung [...] dienen zwei kleine Fenster, die nach dem engen Hof führen. [...]“ Darüber hinaus wird beschrieben, „[...] dass die Entlüftung ungenügend [sei] und stets ein ekelhafter Geruch in der Wohnung herrsche. Der Geruch sei derart stark, dass sogar Familienmitglieder, die in dem Schlafzimmer schlafen, von dem aus der Abort benutzt wird, morgens fast immer Kopfschmerzen haben. [...]“40
Im Juli 1904 berichtet ein Polizist über weitere Missstände: „[...] in dem Hause Kornpfortstraße 4 wohnen, wenn alles vermietet ist, 9 Familien, meist mit sehr vielen Kindern. In dem ganzen Hause ist im Hof nur ein Klosett zur allgemeinen Benutzung. Dieses ist in einer jammervollen Verfassung und sehr oft verstopft, was ich bereits zweimal wahrgenommen habe. Die Leute geben auf meine Anfrage, wo sie denn ihre Bedürfnisse verrichteten, zur Antwort: ,Auf dem Eimer oder in Nachbarhäusern.‘ In dem Hause hatte ich in letzter Zeit wegen Haftbefehlen [...] zu tun. Es war in dem Hause [...] nur Gestank, nicht zum Aushalten, so dass ich machen musste, dass ich aus dem Hause kam. Im Interesse der Gesundheit wird es dringend erwünscht, wenn hier schleunige Abhilfe geschaffen würde, damit nicht ansteckende Krankheiten hier Grund und Boden fassen. [...]“41
Die beiden Beispiele sind kein Einzelfall. In den meist am Ende des 19. Jahrhunderts angelegten Bauakten finden sich immer wieder Berichte, die von höchst unbefriedigenden Zuständen zeugen. Die widrigen Bedingungen setzten die Bewohner nicht unerheblichen Gefahren aus. So drohte im Dezember 1924 eine Küchendecke im Haus Florinsmarkt 8 einzustürzen. Damit aber nicht genug. Am gleichen Ort öffneten sich die Gasleitungen selbstständig, weil eine Bewohnerin in ihren Räumen Holz hackte! Nur vier Jahre später, im Oktober 1928, wandte sich ein anderer Mieter mit der Bitte an die Gesundheitspolizei, seine aus einem Zimmer und einer Küche bestehende Mansardenwohnung näher zu besichtigen. Der Grund für den Antrag leuchtete ein – es regnete ständig hinein. Im Bericht des Koblenzer Gesundheitsamtes heißt es: „[...] vier Personen bewohnen 2 kleine Mansardenräume. Das Dach über diesen Räumen ist an mehreren Stellen defekt. Stellenweise läuft das Wasser bei Regenwetter in Strömen auf die Möbel der Mieter. Ein Verstellen der Möbel lässt sich wegen der Enge der Räume nicht durchführen. [...]“42
Beim Durchblättern der Bauakten fallen immer wieder beschädigte Dächer, feuergefährliche Kamine, verstopfte Abflüsse oder einsturzgefährdete Räume auf. Bei einem intensiveren Blick in die Geschichte der Koblenzer Altstadt ist leicht festzustellen, dass hier alles andere als eine Idylle herrschte. Die Missstände wurden zum Teil erst im Zuge von umfassenden Sanierungsmaßnahmen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges abgestellt. Die Erneuerung der Koblenzer Altstadt wurde in den 1970er-Jahren vor dem Hintergrund des Städtebauförderungsgesetzes angegangen und ist heute noch nicht abgeschlossen. Gleiches gilt für die gravierenden Eingriffe in den heutigen Stadtteil Ehrenbreitstein, der einst Residenz der Kurfürsten von Trier war.
3.1 Der Schwarze Tod
Auch wenn in dieser Studie die Entstehung einer kommunalen Infrastruktur rund um die Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert im Mittelpunkt steht, sollen eingangs die sanitären Verhältnisse in der Frühen Neuzeit nicht verschwiegen werden: Vor allem während des Dreißigjährigen Krieges wurde die Bevölkerung immer wieder von Seuchen heimgesucht. 1632 und wahrscheinlich auch 1636 wütete der Typhus in der Stadt, zwischen 1666 und 1668 forderte die Pest in Koblenz und Ehrenbreitstein ihre Opfer. Die Seuchengefahr war aber schon vor dem langen Krieg groß gewesen. Deswegen ließ der Rat immer wieder Vorschriften zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse verkünden. So wurde 1607/1608 verboten, Abwässer in die Rinnsteine der Gassen zu leiten.43
Aussatz wird in Koblenz erstmals in Urkunden des 13. Jahrhunderts erwähnt. Mithilfe der schriftlichen Quellen lässt sich die Geschichte der Siechenkolonie außerhalb der Stadtmauer bis in das Jahr 1267 zurückverfolgen. Ein solches Areal befand sich zunächst in der südlich von der heutigen Vorstadt gelegenen Laubach. Dieser Isolierbereich für Aussätzige muss später verlegt worden sein, denn im Jahre 1445 wird beim Brückbach im heutigen Siechhaustal – es erhielt seinen Namen erst im 18. Jahrhundert – eine Stätte für Leprakranke genannt. In diesem Gebiet befanden sich Häuser und Hütten. Dort lebten Sieche aus Koblenz, Moselweiß, Lützel und Neuendorf. Noch vor 1750 wurde wohl die Nutzung der Gebäude geändert. Damals gab es am Mittelrhein keine Leprafälle mehr.44
Über die Pestepidemien sind in Koblenz nur knappe Nachrichten erhalten. Erst aus den Quellen des 16. Jahrhunderts erfährt man Näheres über diese tödliche Bedrohung. So ließ die Verwaltung der Stadt im Jahre 1525 im Bereich der Eisbreche am Moselufer Pesthäuser errichten. Weitere Informationen über die Seuche stammen aus den Jahren 1571 und 1574 bis 1578. Am 30. April 1575 ordnete der Rat an, dass alle diejenigen, die die Pest in ihren Häusern hatten, sich von der Gemeinde fernhalten mussten. Im August durfte niemand mehr die Stadt betreten, der aus einem anderen Ort kam, in dem die Seuche herrschte.45
Auch in den 80er- und 90er-Jahren des 16. Jahrhunderts kam Koblenz nicht zur Ruhe. Am 2. Juni 1581 starb der einzige Lehrer des neu eröffneten Jesuitenkollegs. Im Februar 1587 begannen die Jesuiten damit, Isolierhäuser für Pestinfizierte zu bauen. 1594 fielen Münstermaifeld und Montabaur unter den Pestbann, Haus und Laden eines Bäckers in der Stadt wurden auf Anordnung des Rates geschlossen. 1596 untersagte der Magistrat, Schweine in den Straßen herumlaufen zu lassen, obwohl sich in jenem Jahr „nur“ die Ruhr verbreitete. Die „Ruhepause“ sollte jedoch schnell zu Ende sein. Am 10. Mai 1597 wurde die Schweinehaltung untersagt, am 17. Juni folgte das Verbot von Prozessionen und Festessen.46
Aus den schriftlichen Quellen des 17. Jahrhunderts geht hervor, dass der Trierer Kurfürst damit begann, sich verstärkt in die Fragen der Pestbekämpfung einzumischen. Am 10. September 1605 verbot Erzbischof Lothar von Metternich alle Reisen nach Frankfurt, Bürger aus der Stadt am Main durften nicht mehr hineingelassen werden. Koblenzer mussten sich nach ihrer Rückreise von Frankfurt einer fünfwöchigen Quarantäne unterziehen. Die von der Frankfurter Messe kommenden Händler wurden ausgewiesen. Alle von Rat und Landesherrn erlassenen Vorsichtsmaßregeln waren nur kurze Zeit von Erfolg gekrönt. Obwohl man 1607 Kontrollen an den vier geöffneten Stadttoren durchführte, den Pestbann gegen Mainz und Köln verhängte und sich schließlich darum bemühte, die Gassen rein zu halten und Häuser auszuräuchern, brach die Seuche im August jenen Jahres erneut aus. Erst Anfang November ging die Epidemie vorläufig zu Ende, um 1611/1612 erneut zahlreiche Opfer zu fordern. Die meisten wohlhabenden Bürger waren inzwischen geflohen, die Verbliebenen wurden zusätzlich von einer Hungersnot geplagt.47
Die Zeit der Pestepidemien mit ihren Begleiterscheinungen ging in Koblenz erst im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zu Ende. Zuvor hatte die tödliche Seuche die Menschen noch einmal in den Jahren 1622 bis 1625, 1660 und von 1665 bis 1669 heimgesucht. Über die letztgenannte Pestwelle ist noch eine Reihe von Informationen überliefert. So plante der Magistrat im Januar 1667 den Bau von Pestbaracken und die Bestellung von Pflegerinnen. Im Sommer hatte die Krankheit bereits die Vororte erreicht. Die Koblenzer schickten einen Geistlichen nach Neuendorf, der nicht mehr in die Stadt zurückkehren durfte. Allen Gegenmaßnahmen zum Trotz brach die Seuche im August auch innerhalb der Stadtmauern aus. Dennoch versuchte der Rat, den Ausbruch der Pest gegenüber dem Landesherrn und den Nachbargemeinden zu verheimlichen. Das half natürlich wenig. Im Oktober verhängte Mainz über Koblenz den Pestbann. Erst im Juni 1668 hatten die Bürger das Schlimmste überstanden.48
Pfuhl- und Wöllersgasse hatten unter der letzten Pestepidemie besonders zu leiden. Der Rat reagierte, indem er diese Bereiche in der heutigen Altstadt durch Schildwachen abriegeln ließ. Nur Geistliche, Ärzte und Pfleger durften noch in die betroffenen Viertel hinein. Zudem veranlasste der Magistrat die Errichtung von besonderen Pestbauten: Das städtische Hospital wurde zu diesem Zweck erweitert, ebenso das Hospital in Lützelkoblenz. Umbauten nahm man auch in Neuendorf vor, Moselweiß, Güls und Lay erhielten Pestbaracken. Die Siechenkolonie bei Kapellen (heute Stolzenfels) blieb ausschließlich den Pestkranken vorbehalten. Das größte Lazarett entstand in den Steinbrüchen der Laubach.49
Obwohl die Zusammenhänge zwischen verseuchtem Grundwasser und Epidemien noch nicht entdeckt waren, wollten kurfürstliche und kommunale Verwaltung die Bürger zum Bau steinerner Sickerschächte zur Beseitigung der Fäkalien zwingen. Üblich waren in den Boden eingelassene Holzfässer. Doch die Maßnahmen änderten nicht viel. Brunnen, Dunglager (Mistgruben) und Aborte lagen weiterhin eng beieinander, sodass sich der Zustand der sanitären Einrichtungen lange Zeit nicht wesentlich verbesserte. Selbst am Ende des 19. Jahrhunderts waren die Probleme noch nicht gelöst.50 Besondere Aufmerksamkeit schenkten die Stadtväter den Fleischscharren auf dem Plan, denn sie galten immer als Hauptentstehungsort von Epidemien. Am 17. Mai 1607 wurde die Abschaffung dieser Fleischstände wegen „sterbend Luft“ beschlossen, am 23. Dezember 1607 ihre Neuerrichtung sogar vorübergehend verboten.51
Auch später befahlen Stadtrat und Landesherr immer wieder, den Plan sauber zu halten. So wurde im März 1669 der kurfürstliche Befehl bekannt gegeben, den „[...] Plan, alß die fürnembste platze dieser Stat zu säuberen, und hinführo sauber zu halten. [...]“52 Betriebsverbote erließ man auch für die Badstuben in der Stadt, eine nicht unübliche Praxis in dieser Zeit. Man wollte das Einziehen von pestbringenden Luftschwaden durch die Poren der durch das heiße Wasser aufgeweichten Haut verhindern. Damals war man noch der Meinung, dass Wasser über die Haut in den Körper eindringen kann. Die Folge: Mit der Zeit verschwanden die Badstuben völlig aus dem Stadtbild – allerdings gegen den Willen der Betreiber, die ihre vor allem als Stätte des Vergnügens geschätzten Bäder ungern aufgaben.
Auch im privaten Bereich waren Badevorrichtungen lange Zeit unüblich. Es setzte sich die „trockene Toilette“ durch. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das „Nassbaden“ allmählich wieder beliebter. Dennoch wurden weiterhin fast alle neuen Häuser ohne eigene Baderäume errichtet. Ein Bad blieb das Privileg der gehobenen Schichten.53
Die Zahl der Koblenzer Badstuben lässt sich heute nicht mehr eindeutig ermitteln.54 Eine dieser Anstalten befand sich in einer südlichen Nebenstraße der Kastorgasse in unmittelbarer Nähe des Hofes der Zisterzienserabtei Himmerod.55 Trotz grassierender Pest bestand sie noch 1659. Erst zehn Jahre später wurde der Platz verkauft.56 Diese Tatsache zeigt, dass auch in Koblenz die Badestuben weniger aus hygienischen als vielmehr aus sittlichen Gründen geschlossen wurden. Ein geeignetes Mittel zur Verhütung von Krankheiten sah man eher darin, die Bürger zur Säuberung der Straßen zu verpflichten57, um schlechte und faulige Gerüche aus der Stadt zu verbannen.
Auch in Koblenz war die Annahme weit verbreitet, dass Miasmen für die Übertragung von Krankheiten verantwortlich waren. Trotz aller angeordneten Vorsichtsmaßnahmen war der Erfolg im Kampf gegen Seuchen mäßig. Dennoch zeigen die Beispiele, dass das Thema Stadthygiene wesentlich älter ist, als die aktuelle Diskussion um die „Medicinalpolizey“ des 18. Jahrhunderts vermuten lässt. Völlig zu Recht weist Caren Möller in ihrer Dissertation darauf hin, dass die zahlreichen Publikationen zum Thema „Gesundheit“ aus dieser Zeit in einem größeren Kontext zu sehen sind, der weit in das 16. Jahrhundert zurückreicht.58
Freilich waren die damals gewonnenen Erkenntnisse wenig geeignet, um eine effektive Seuchenbekämpfung in die Wege zu leiten. Schwerer wog jedoch die Tatsache, dass die Umsetzung der Vorschriften durch die Bürger – die Macht der Gewohnheit war wohl stärker als die Vorsicht – sehr lax gehandhabt wurde. Auch die Qualität der Kontrollen ließ stark zu wünschen übrig. Für die eigentlichen Seuchenherde – die ungesunden Quartiere der Unterschichten – schien sich offenbar niemand zu interessieren. Und so kam es, dass auch im Koblenz des angeblich so „aufgeklärten“ späten 18. Jahrhunderts viele Menschen in dunklen und engen Häusern lebten. Dort hatten größere Fenster Seltenheitswert, denn man wollte sich mit der Anlegung von kleinen Öffnungen Schutz vor der Kälte verschaffen. Ungünstig auf die Gesundheit wirkten sich immer noch die schlechte Trinkwasserversorgung, die unausgewogene Ernährung der Menschen und die auch sonst völlig unzureichenden hygienischen Verhältnisse aus. Die Tatsache, dass die Straßen in der Regel nur anlässlich der Fronleichnamsprozession gründlich gereinigt wurden, zeigt, wie wenig man sich der lauernden Gefahren bewusst war. Da half es auch nicht mehr viel, wenn der Magistrat hin und wieder die Frische der auf dem Markt angebotenen Lebensmittel überprüfen ließ.59
3.2 Das Hauptübel: Die Friedhöfe
Auch in Koblenz waren die noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mitten in der Stadt gelegenen Kirchhöfe ein Hauptübel. Die „Gottesäcker“ hatten einen verheerenden Einfluss auf die Qualität des Grundwassers. Diese Erfahrung hatte man schon gemacht, wenngleich an eine wissenschaftliche Erforschung der Zusammenhänge noch längst nicht zu denken war. Und: Hygienische Argumente waren für die späteren Friedhofsverlegungen des 18. und 19. Jahrhunderts sekundär. Schwerer wogen städtebauliche und ästhetische Argumente.60
Bereits 1920 hat Andreas Schüller das nicht nur für Koblenz symptomatische Problem in der „Zeitschrift für Heimatkunde von Coblenz und Umgebung“ ausführlich beschrieben. Da dieser Bericht nicht nur auf einer vollständigen Auswertung der Ratsprotokolle beruht – sie sind für die Frühe Neuzeit in Koblenz die maßgeblichen Quellen –, sondern auch gar nicht besser wiedergegeben werden kann, seien an dieser Stelle die wichtigsten Passagen zitiert:61 „[...] Der uralte Wunsch der Christen ging dahin, bei den Märtyrern zu ruhen; Altare waren nun das Sepulcrum mit Heiligengebein; Segen des Opfers sollte auf die Gräber überfließen; dort waren die bösen Geister, die zwischen den Toten ihr Unwesen trieben, am leichtesten gebannt; dort war der Tote nicht vergessen; denn der Schritt eines jeden lenkte sich nach dem Gottesdienste zum Grabe seiner Lieben, und der Tau des Gebets senkte sich herab.62 Von Osten her erwartete man am jüngsten Tage den Richter auf den Wolken des Himmels; die Kirche war geostet; auch die Gräber waren geostet; denn die Hingesäten sollten bei der Auferstehung wie eine Heerschar dem Feldherrn ins Auge schauen.63
Wenig Raum war in der Stadt; die Gassen liefen von allen Seiten auf die Kirche zu, die Häuser drängten und schoben sich nach dem Kirchhofe hin. Dieser war klein und eingepfercht von Häusern. Standest Du an der Ecke von Unser Lieben Frauen, so schautest Du über die grauen Gräber und über die kleinen Kreuze und über das schmiedeeiserne Gitter hinweg in ein Gewirre von Häusern, Hinterhäusern, Höfen, Giebeln, Fenstern, Treppen, Galerien, Werkstätten, Küchen, Wäsche und Windeln. Liebfrauen war die Ratspfarrei; dort lag der Hauptstadtfriedhof; […] auch bei St. Castor wurden Bürger begraben. Sodann treffen wir Begräbnisstätten bei St. Georg64, bei den Dominikanern in der Weißergasse und bei den Franziskanern in der Castorgasse. Laien fanden hier ihre Ruhe; die Mönche […] wurden in ihren Kirchen oder deren Grüften beigesetzt. Ein bestimmter Nachbarbezirk scheint diesen Klosterfriedhöfen zugewiesen gewesen zu sein; denn es wurde jemand in Ratsstrafe genommen, weil er sein Kind, das zu den Predigern gehört‘, auf dem Liebfrauenfriedhof hatte bestatten lassen. [...]
Die Gräber waren nicht tief. Ein Stab, der in dem Liebfrauenpfarrhause (1683) aufbewahrt wurde, gab die Tiefe an. Die Leichen wurden offen auf einer Bahre zum Grabe getragen. Nicht alle erfreuten sich eines Sarges; manche waren nur in Laken oder in einen Sack gehüllt. Wegen des engen Raumes des Friedhofes mußten die Gräber oft erneuert werden. Die ausgegrabenen Knochen, besonders die Schädel, kamen dann ins Schinkenhaus oder Beinhaus, auch Kermeter genannt, das sich bei jeder Kirche befand. Im Liebfrauenschinkenhause wurde bisweilen auch Messe. für die Verstorbenen gelesen. Wenn die Pest herrschte, hatte man nicht Zeit zum Ausgraben; man schüttete auf dem Friedhofe dann hohen Grund auf, man häufte Leichen auf Leichen. Oft genügte auch dies nicht; man scharrte dann die Pestleichen irgendwo vor den Stadtmauern auf freiem Felde ein. Auch zu normalen Zeiten müssen wir uns die Gräber hochgehügelt denken; im Jahre 1551 zum Beispiel waren auf dem Liebfrauenkirchhofe die Gräber derart gehäufelt, daß den Bürgern Licht und Luft in den Kellern versperrt wurde. Auf manchem Grab des Liebfrauenkirchhofes lag eine Steinplatte, auf manchem stand ein kleines Eisen-, Holz- oder Basaltkreuz, meist nur mit einer Hausmarke65, Name und Daten geziert. [...] Der Klerus wurde im Chor der Kirche begraben, vornehme Bürger im Schiff; sie hatten dort ein Erbbegräbnis oder kauften sich einen Platz. Das ganze Jahr hindurch war daher hie und da in der Kirche der Boden aufgewühlt; das Paviment, vielfach mit Grabplatten durchsetzt, war unregelmäßig; Modergeruch erfüllte den Raum. [...]
Der Liebfrauenkirchhof [...] bildete eine Ansteckungsgefahr. [...] Im Pestjahr 1577 fand Kurfürst Jakob von Eltz es gefährlich, die Pestleichen dicht an der Liebfrauen Trivialschule zu begraben; so daß die Kinder über die Gräber gehen müßten. Die Stadt solle zusehen, ob sie nicht sonstwo, etwa bei den Predigerherren, Platz für Begräbnisse erstehen könne. Im Pestjahr 1607 wurde beschlossen: ,was ahm negsten ahn beeden clöstern zu den Predigern und Brüdern (Franziskaner) herumb stirbt ahn Kindern, Dienstbotten und frembden solle of selbigem Closterkirchhoff begraben‘ werden. Besonders war man in der schrecklichen Seuchenperiode 1666–1669 wieder in großer Not. 1666 ordnete der Stadtrat an, die abgelebten Inficierten in der ,Leimkaule‘ zu begraben. Im folgenden Jahre mußte man, da der Liebfrauenkirchhof bereits ganz besetzt war, wieder bei den Predigern und bei St. Castor Gastrecht in Anspruch nehmen. Aber auch das genügte nicht. 1668 waren bereits alle Begräbnisplätze in der Stadt überfüllt. 1668 befahl der Rat, ,pro cimeterio einen abgelegenen Platz aufzusuchen und ein Crucifix [dort] uffzurichten‘. Außerdem sollte der Liebfrauenkirchhof mit Grund aufgefüllt werden. [...]
1672 hören wir in den Kriegen Ludwigs XIV. von vielen Kranken, besonders französischen Soldaten. Im folgenden Jahre liegen deren 40–50 im Stadtspital. Auch das Spital von Lützel-Coblenz war mit Soldaten bedacht; dazu baute man ein Lazarett in den Stadtgräben oberhalb des Zachariasturmes zwischen Stadtmauer und Fortifikation. 1675 lagen viele bei der Belagerung Triers verwundete Soldaten in Coblenzer Bürgerquartieren. 1679 waren Spital und Bürgerhäuser mit kranken Soldaten angefüllt. 1689 herrschte unter dem Militär stark die Dysenteria.66 [...] All dies mußte den Plan eines Garnisonskirchhofes nahe legen. Es scheint aber einstweilen nichts daraus geworden zu sein, denn 1693 erfahren wir wieder, „weil hiesige Guarnison sehr kräncket und sterbet‘, seien auf dem Liebfrauenkirchhofe alle freien Plätze mit Soldatengräbern belegt; auch ,sterbende Uncatholische dahin nicht gehören und denen auch eine besondere Platz zu verordnen‘. [...] Einen ewigen Kampf führte der Rat mit dem Totengräber von Liebfrauen wegen der Reinigung des Kirchhofes. [...] Einmal wird geklagt, der Kirchhof und die Gasse liege in ,Kammererde‘ (mit menschlichen Exkrementen) versperrt, die aus dem Pfarrhofe dahin geschüttet würden. Immer wieder traf den Totengräber – ja sub poena amotionis (1682) – die Mahnung, besonders zur Pestzeit (z. B. 1597), die Gräber tief genug zu machen. Für die Säuberung des Kirchhofes war er von der Wache und vom Nachtgelde befreit, auch wohnte er in einem der Stadttürme. [...] Da man in schwerer Pestzeit die Erfahrung gemacht hatte, daß der Totengräber sein Amt niederlegte, wurde im Jahre 1686 der neue Totengräber Johann Mertloch aus Wassenach ausdrücklich verpflichtet, die Leichen auch zur Zeit der Contagion zu bestatten. [...]“67
Trotz dieser verheerenden Zustände griff die Obrigkeit nicht hart genug durch: Auch noch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lagen die Begräbnisstätten mitten in der Stadt. Erst am 10. Mai 1777 ordnete Kurfürst Clemens Wenzeslaus die Verlegung des Liebfrauenkirchhofes vor die Tore von Koblenz an. Diese Vorschrift dehnte der Landesherr am 30. März 1778 auf das gesamte Erzstift aus. Fortan war es verboten, die Toten im Außenbereich und im Inneren der Kirchen zu bestatten. Eine Ausnahme galt lediglich für Stiftsherren und Mönche sowie für Familiengrüfte. Ab sofort sollten Bestattungen nur noch außerhalb der Stadtmauern oder in abgelegenen Gegenden, die von Hauptstraßen und Wohnhäusern weit genug entfernt waren, vorgenommen werden.68 Am Koblenzer Beispiel wird jedoch deutlich, dass die Verlegung der Friedhöfe nicht ausschließlich gemäß dem Vorbild der umfassenden „Desodorierungsstrategien“69 in anderen europäischen Städten erfolgte. Schwerer wogen die städtebaulichen Argumente – die Obrigkeit hatte längst damit begonnen, umfassende Maßnahmen zur Verschönerung des Stadtbildes in der kurfürstlichen Residenz einzuleiten. Ein Dorn im Auge waren dabei vor allem die Verhältnisse im Entenpfuhl – und das nicht nur wegen des benachbarten Friedhofs, sondern auch wegen der Tatsache, dass der dort noch offen liegende Stadtgraben als Kloake genutzt wurde.70 Die dadurch entstehenden Düfte beleidigten nicht nur die Nasen der Obrigkeit. Parfümierte Riechäpfel oder -gefäße dürften auch bei wohlhabenden Koblenzer Bürgern beliebt gewesen sein.71 Aber auch der Friedhof an der Liebfrauenkirche dürfte ein echtes „Geruchsproblem“ gewesen sein, wie es im damaligen Europa wohl an der Tagesordnung war. So berichtet Alain Corbin über Beschwerden in Paris, die 1780 zur Schließung des „Cimetière des Innocents“ führten.72
Der Koblenzer Magistrat hatte vorgeschlagen, den neuen Friedhof im Bereich der zwischen der mittelalterlichen Stadtmauer und den barocken Befestigungsanlagen befindlichen Michaelskapelle anzulegen.73 Dieser Standort spielte bei den weiteren Verhandlungen jedoch keine Rolle. Gründe dafür mögen wohl die fehlenden Erweiterungsmöglichkeiten in diesem Gebiet gewesen sein. Später richtete man stattdessen die Beerdigungsstätte auf dem südwestlich von der Löhrstraße gelegenen Glacis ein. Doch auch in diesem Falle versuchte der Rat, den Beginn der Arbeiten hinauszuzögern, weil man die Ausgaben scheute. Deswegen verurteilte der Kurfürst 1782 die Stadt zu einer Geldstrafe von 100 Goldgulden. Er machte außerdem zur Auflage, den neuen Kirchhof von den angrenzenden Gärten durch Palisaden abzutrennen und die Mauer fertigzustellen.74
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